zum Hauptinhalt

Potsdamer Festival: Zug um Zug

Das Festival „Localize“ begibt sich vom 13. bis 16. Juni nach Pirschheide und belebt das Areal um den alten Hauptbahnhof.

Stand:

Die einzige Bewegung in dieser vormittäglichen Stunde ist bei den „Eroticats“. Dort schleicht ein verstohlen um sich schauender Mann mit hochgeschlagenem Kragen in die Baracke. Ansonsten Menschenleere. Die Welt scheint hier aus der Zeit gefallen zu sein. Der einstige Hauptbahnhof Potsdams, der heute Pirschheide heißt, wirkt wie ausgestorben. Das einzige Lebenszeichen kommt von den zwitschernden Vögeln. Ansonsten ist man mit sich allein. Und muss lächeln, wenn an einem übersprühten Bahnhofs-Schaukasten für das Naturkundemuseum in der Wilhelm-Külz-Straße geworben wird, die bereits seit Jahren Breite Straße heißt. Der Blumenladen gegenüber sieht aus wie eine verdörrte Wiese mit wild auseinandergepflückten vertrockneten Pflanzenresten. Offensichtlich ist diese Wüste aber noch als Lager in Betrieb. Der Zeitungskiosk hat indes seit Jahren keine Zeitung mehr gesehen, ebenso wenig wie im Imbiss Würstchen über den Tresen gingen. Doch dann kommt Bewegung ins Spiel. Ein Zug hält und spült an die zwanzig Personen auf das einzig noch befahrene Gleis. Im Gänsemarsch formieren sich die Angekommenen, die mit sturem Blick auf die Füße des Vordermanns ihre Rollkoffer über die alten Betonplatten rattern lassen. Schnell ist die Invasion in Richtung Seminaris-Hotel wie eine Fata Morgana verschwunden.

Genau diese entrückte Atmosphäre in Staub und Stille war es auch, die Anja Engel und Peter Degener inspirierte, ihr diesjähriges „Localize“-Festival hierher zu verfrachten: Bildende Kunst und Musik, Kleinkunstesprit und Szenisches zwischen eingerosteten Türen, verfallenen Treppen und dem leisen Anflug neuen Lebens. Denn gleichzeitig ist noch eine andere Initiative an diesem ausrangierten Bahnhof aktiv: hinter verschlossenen Türen in der großen alten Schalterhalle mit ihren braunen und mintfarbigen geriffelten Fliesen. Hier soll der „Klub Pirschheide“ entstehen (PNN berichteten), der ab Ende August unter dem alten Hinweisschild „Zu Gleis 7 und 8“ ganz neue Züge anrollen lässt: mit Livemusik und drehenden Plattentellern.

Die Eigentümer der Halle, das Ehepaar Ronald und Chima Engelhardt aus Werder (Havel), schließen die silberfarbigen Blechtüren auf und gewähren zum Gespräch mit den Localize-Vorreitern Eintritt in diese klare, moderne Architektur aus den 50er Jahren. Sofort schwappen Erinnerungen an einstige Fahrten mit dem „Sputnik“ wieder hoch, an die volle und laute „Mitropa“-Gaststätte, an die legendären Frikadellen, an die stinkenden Klos. Jetzt steht diese Halle vor neuer Berufung: zum Auftakt als temporäre Kunsthalle für vier Tage „Localize“. Vom 13. bis 16. Juni gibt es hier die Kunstattacke „Zug um Zug“, wobei dieses Thema keine ironische Anspielung auf die fast vollständige Abkopplung Pirschheides vom Bahnverkehr ist.

„Zug um Zug“ will sich vielmehr mit Spieltheorien auseinandersetzen, mit der Strategie von Gewinnern und Verlierern, mit der gesellschaftlichen und politischen Dimension, die manchem Spiel innewohnt. Wie und warum trifft man Entscheidungen? Wie egoistisch oder solidarisch verhalten wir uns? Darf man ein Spielverderber sein? Und warum kommt es überhaupt immer wieder zum Crash?

„Klar, stand da auch die Frage: Wollen wir überhaupt in einen Ort rein, der in wenigen Monaten ohnehin eröffnet wird“, so Anja Engel. Schließlich ist Localize seit fünf Jahren Vorreiter, um versunkene Orte der Stadt dem Vergessen zu entreißen. „Aber wir wollen diesem Areal in der Pirschheide ja noch etwas anderes abgewinnen, als es die künftige Dauernutzung als Klub vorsieht. Es geht uns auch um die spannende Umgebung dieses verödeten Komplexes, mit der Havel in der Nähe und dem Musikpavillon von Reinhold Mohr als Kleinod der Potsdamer Moderne am Templiner See.“ Da spricht der Historiker aus Peter Degener, der sonst als Stadtführer unterwegs ist und nun bei Localize mit interaktiven Formaten die Leute ebenfalls in die Umgebung locken will.

Auch den Imbiss und Zeitungskiosk wollen die Festivalbestreiter mieten, den Bahnhofsvorplatz bespielen und mit den Betreibern der gut frequentierten Bowlingbahn ins Gespräch kommen. Am Programm wird noch gestrickt, Einreichungsschluss der internationalen Ausschreibung ist am 30. April. Alle Formate sind gefragt und willkommen, jeder kann auf ganz eigene Art zum eigennützigen oder zum Gemeinschaftsspieler werden – auf diesem Spielbrett der Fantasie. „Wir schreiben auch Leute an, um bewusst einen Austausch zwischen regionalen und internationalen Künstlern zu schaffen“, sagt Anja Engel.

Sind alle Künstler erst mal am Start geht es ans Entrümpeln der Bahnhofsnebengebäude. Denn neben der konzeptionellen Gestaltung muss für Raum, Licht, Rettungswege, Verkehrssicherheit gesorgt werden, alles Dinge, die nach Bürokratie klingen, aber dennoch von den unerschrockenen Localize-Mitgliedern couragiert angegangen werden. „Wir haben trotz der Wege durch die Ämter noch immer Lust auf Kultur und wollen allen Widerständen zum Trotz zeigen: Es geht“, so Anja Engel, die sonst als Kulturmanagerin arbeitet. Sieben Leute stecken in diesem Jahr ehrenamtlich ihre Energie in das Festival, das derzeit noch unterfinanziert ist. Klagen wollen die Organisatoren dennoch nicht. „Es gibt so viele Localize-Fans. Wir haben schon überlegt, einen Spendenaufruf zu starten oder um Fördermitglieder zu werben“, sagt Peter Degener. Es gab dieses Jahr 1000 Euro weniger als im Vorjahr aus dem Topf für kleinteilige Projektförderung der Stadt und erstmals nicht die beantragte Fördersumme. 15 000 Euro sind nötig, um alles wie geplant und für die Besucher kostenlos anbieten zu können.

Ganz anders als im vergangenen Jahr, als der Stadtkanal mit Kultur geflutet wurde und die Passanten regelrecht in dieses Ereignis in Potsdams Mitte hineingespült wurden, müssen sich die Gäste diesmal extra auf den Weg machen: aber bei 15 Minuten Fahrzeit mit der Straßenbahn oder mit dem Regionalzug 23 Richtung Michendorf noch schneller – wohl kein Problem. Dafür kann man bei die Reanimierung dieses in die Bedeutungslosigkeit versunkenen Gebäudekomplexes dabei sein. Der am südwestlichen Stadtrand gelegene Bahnhof war nach dem Mauerbau 1961 quicklebend. Von hier aus gab es die einzige Verbindung nach Ostberlin. Westberlin musste umfahren werden.

Es gibt noch viele Orte, die künftig für Localize interessant sein könnten, wie der Landtag, das Rechenzentrum oder die Schwimmhalle. Überall stecken wie im alten Bahnhof Gefühle und Erinnerungen drin. Das Blauhaus und der Intershop standen auch auf der Localize-Wunschliste, doch da war der Abrissbagger schneller. „Klar, es wird schwieriger, Objekte zu finden, die brachliegen und die wir durch Kultur wieder ins Bewusstsein bringen können. Aber noch gehen uns die Ideen nicht aus. Wenn es keine Häuser mehr gibt, schauen wir eben auf Baracken oder Baulücken“, so die beiden Localize-Vorstandsmitglieder.

Ihr Spielbrett ist der Stadtraum, auch wenn viele Regeln die Ämter bestimmen. Doch „Zug um Zug“ lassen sich die Spielsteine auch nach eigener Strategie verrücken.

www.localize-potsdam.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })