Kultur: Zwiespältig
„Potsdam im Zweiten Weltkrieg“ vorgestellt
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Mehr als 2000 Fakten haben Kurt Baller und Marlies Reinholz für ihre Chronik „Potsdam im Zweiten Weltkrieg“ zusammengetragen. Fünf Jahre haben sie dafür vornehmlich in der Stadt- und Landesbibliothek geforscht, wo das Buch vergangene Woche vorgestellt wurde. Die Datenkolonnen informieren über alle Bereiche des städtischen Lebens in den 2069 Potsdamer Kriegstagen. Verzeichnet sind der erste Gefallene, der 22-jährige Panzersoldat Heinz Jekzentys, sämtliche Luftalarme, die Deportation des letzten Juden, aber auch die Rettung des 21-jährigen Ezra Feinberg, von dem Babelsberger Helmuth Sell versteckt. Ebenso spiegeln die Einträge den Kriegsalltag wider, etwa die von Oberbürgermeister Hans Friedrichs 1939 verfügte Einstellung des Weihnachtmarktes, die Umwandlung des Wilhelmplatzes in einen Acker, das den Gaststätten vorgeschriebene fleischlose „Stammgericht“. Und „zwei elternlose Knaben, Vater Stalingradkämpfer“, suchen in einer Anzeige der Potsdamer Tageszeitung einen Wohltäter, der ihnen zu Weihnachten eine Eisenbahn schenkt.
Man kann die Chronik mehrfach durchblättern und wird immer Neues entdecken. Im Vorwort sind Schwerpunkte aufgezählt, die Potsdam damals prägten. Es sei mit mehreren NS-Schulungsstätten „ein Zentrum der Vermittlung der nationalsozialistischen Ideologie“ gewesen, aber auch im Krieg Kunst- und Kulturstadt geblieben. Knapp, aber präzise wird die Rolle im Offizierswiderstand des 20. Juli 1944 dargestellt und Potsdam am Kriegsende als „zerstörter Ort, eine Stadt der Trauer und des Leids“ beschrieben.
Die Zerstörungen führt das Autorenteam aber fast ausschließlich auf den englischen Bombenangriff vom 14. April 1945 zurück, bei dem es 3578 Todesopfer gegeben haben soll. Baller berief sich bei der Buchvorstellung auf den verstorbenen Stadtgeschichtler Hans-Werner Mihan, mit dem er eng zusammengearbeitet habe. Mihan hat aber bereits 1997 in seinem Buch „Die Nacht von Potsdam“ die dem Sterberegister folgende exakte Opferzahl, nämlich 1593 plus etwa 200 Vermisste, veröffentlicht. Dem sowjetischen Artilleriebeschuss bei der Eroberung der Stadt Ende April werden heute 40 Prozent aller Gebäudeschäden zugerechnet.
Schwer zu glauben, dass der akribisch arbeitende Baller diese Forschungsergebnisse übersehen hat. Der ehemalige Agitpropmitarbeiter des FDGB-Bezirksvorstandes kann wohl nicht aus seiner Haut. Dies wird besonders deutlich im letzten Teil der Kriegschronik. Kein Wort aber über die Vergewaltigungen und Plünderungen durch sowjetische Soldaten. Nicht erwähnt der gigantische Kunstraub aus den Schlössern. Die Chronik suggeriert an einem Befehl von Stadtkommandant Oberst Werin, Potsdamer selbst hätten im wesentlichen diese Diebstähle begangen. Auf Nachfrage aus dem Publikum räumte Baller ein, auch die Sowjets hätten „einiges mitgenommen“. Dies sei angesichts der deutschen Verwüstung ihrer Heimat ihr Siegerrecht gewesen, außerdem hätten sie den „größten Teil“ zurückgegeben. Demnach haben die „Chronik“-Autoren den 2004 von der Schlösserstiftung herausgegebenen Verlustkatalog „Zerstört – Entführt – Verschollen“ nicht zur Kenntnis genommen. Darin werden 3000 verlorene, zu einem großen Teil in Russland zurückgehaltene Gemälde aufgelistet, und mit 500 Aquarellen fast die Hälfte des Bestandes der früheren preußischen Schlösserverwaltung. Erhart Hohenstein
Kurt Baller, Marlies Reinholz: Potsdam im Zweiten Weltkrieg. Eine Chronik, docupoint-verlag, 414 S., 70 Abb., 16 Euro
Erhart Hohenstein
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