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Tanztage in der fabrik: Zwischen Boxring und Papphäusern

Die ganz Berühmten kommen nicht. Dazu war der Vorlauf zu kurz. Erst drei Tage vor Weihnachten erhielt die „fabrik“ die Zusage von der Stadt auf eine Mitfinanzierung der Tanztage 2012.

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Da waren die namhaften Companien längst ausgebucht. „Immer das gleiche Desaster. Selbst der Vorlauf für ein neues Straßenschild ist länger“, schimpft der Künstlerische Leiter Sven Till. Wieder mussten sie ihr Vertrauen bei den Künstlerkollegen in die Waagschale werfen und sie einem Risiko aussetzen. „Nach einem halben Jahr Zittern können wir nun aber doch mit einer guten Qualität aufwarten und bekannte Choreografen der mittleren Generation zeigen.“ Das Eröffnungsstück verdeutlicht wohl sehr exemplarisch die Situation: Statt wie im vergangenen Jahr in weichen Sesseln des Nikolaisaals die Klassikerin Maguy Marin zu erleben, geht es jetzt auf harte Stühle an den Boxring. Das verspricht indes nicht weniger aufregend zu werden.

Dort spannen vier Männer ihre Muskeln, testen ihr Gleichgewicht der Kräfte. Ihre Sprünge werden immer höher, der Aufprall der Körper immer gefährlicher, die Brücke, die sie aus ihren Leibern bauen, wird zum Nervenkitzel – wie schon in einem Videomitschnitt zu spüren ist. Die französischen Akrobaten von Un Loup Pour L’Homme begeisterten bereits vor zwei Jahren das Potsdamer Publikum. So wie damals waren sie auch jetzt am Tiefen See in Residence, konnten in den „fabrik“-Studios, im Babelsberger Park und auf Klettergerüsten der benachbarten Spielplätze trainieren. Auch im Babelsberger Boxklub holten sie sich jetzt Anregungen für ihr Stück „Face Nord“, an dem sie über ein Jahr gefeilt haben. Nun erlebt es zum Festivalauftakt seine Deutschlandpremiere. „Die Arbeit versprüht die Atmosphäre eines Straßentheaters“, sagt Frauke Niemann von der „fabrik“, die das Festival mit vorbereitet hat. „Man fiebert förmlich mit, wenn die Männer mit ihrer Kraft und ihrem Gewicht ,jonglieren’, die Rivalität und Aggressionen männlicher Spiele, aber auch die Fragilität der Partnerschaft in den Ring stellen.“

Die großen Bühnen des Nikolaisaals und Hans Otto Theaters stehen aufgrund des engen Zeit- und Finanzkorsetts diesmal zwar nicht zur Verfügung. Dennoch breitet sich die „fabrik“ vom 23. Mai bis 3. Juni mit ihren zwölf verschiedenen Shows aus acht Ländern über die ganze Schiffbauergasse aus. Auch die zumeist verwaiste Schinkelhalle wird mehrfach bespielt. „Man kann dort sehr viel machen, vor allem sehr spezielle Sachen“, so Sven Till, dem es wichtig ist, gerade auf einem Festival den zeitgenössischen Tanz ganz breit zu betrachten und auch angrenzende Genre in den Fokus zu nehmen. Wie Miet Warlop, die Künstlerin aus Brüssel, die ihre Märchenstadt Springville in die Schinkelhalle baut: mit Häusern aus Pappe, deren Bewohner Tische mit langen Frauenbeinen sind. Es passieren zärtliche Annäherungen zwischen einem Elektrokasten und laufenden Pappkartons, abstruse Figuren beseelen die Landschaft. „Das alles ist sehr poetisch und humorvoll, ähnlich wie bei Alice im Wunderland. Doch am Ende kippt das liebenswürdige Spiel in eine Art Weltuntergang um“, kündigt Frauke Niemann an. Bedrohlich scheint es auch zu werden, wenn der Spanier Roger Bernat in der Schinkelhalle alle Zuhörer mit funkgesteuerten Kopfhörern ausstattet und sie zur Strawinsky-Musik „Le Sacre du Printemps“ tanzen lässt. Dabei soll die legendäre Choreografie von Pina Bausch aus dem Jahr 1975 wiederauferstehen. Es ist nichts Kompliziertes und für jeden machbar, denn es sind ganz einfache Regieanweisungen, die neben der Musik über die Kopfhörer ertönen. „Lass den Kopf sinken“, „Geh nach rechts“, „Heb die Arme“. Umso überraschender ist das Ergebnis, wie ein Video zeigt. Es geht eine enorme Kraft von dieser ferngesteuerten Masse aus. „Eine unglaubliche Dramatik, wenn dieser Menschenpulk über den Boden stampft, bis dieser zu beben scheint“, sagt Frauke Niemann, die diese Choreografie bereits in Frankreich erlebte. Nicht alle Zuschauer bekommen dabei die gleichen Anweisungen, um so erstaunlicher sei das Zusammenspiel. Und man könne sich natürlich auch den Aufforderungen zum Mitmachen entziehen.

Eine große Geschichte, in der die „fabrik“ als Produzent mit eingestiegen ist, bringt der Israeli Arkadi Zaides auf die Festivalbühne. Er ist bereits seit Tagen in Potsdam und feilt in „Residence“ an seiner Uraufführung von „Land-Research“. Arkadi Zaides ist der einzige Tänzer in Israel, der mit Palästinensern zusammenarbeitet, was im Sprechtheater schon etablierter ist. In dem neuen Stück, das sich aus fünf Soli zusammensetzt, befragt er nicht nur den bilateralen Konflikt im Nahen Osten. Ihn interessiert insgesamt die Frage, wie sehr Menschen an ihrem Land gebunden sind und welcher Segen und welcher Fluch darüber liegt. Eine philosophischer Exkurs, der an die menschlichen Wurzeln rührt.

Insgesamt sind es vier Produktionen, die im Rahmen der Residencen entstanden sind und während der Tanztage ihre Premiere erleben. „Das hatten wir in dieser Fülle noch nie“, freut sich Sven Till. Und er sagt auch, dass sich die „fabrik“ schon lange nicht mehr als eine freie Theatergruppe sieht. „Wenn dem so wäre, hätten wir eine Topp-Finanzierung. Doch wir sind auch Produktions- und Spielstätte, an der internationale Künstler andocken und in Ruhe arbeiten können. Das hat unser Haus wachsen lassen.“ Nichts sei in Blei gegossen. Es gebe inzwischen einen Paradigmenwechsel, betont Sven Till. „Wir sind ein Ort, der andere Gruppen und Formate befördert. Das bewirkt mehr, als das, was wir allein als Künstlergruppe der ,fabrik’ erreichen könnten.“

Und so sind die Tanztage auch ein Ausdruck dafür, was ausgestreckte Arme über Ländergrenzen hinweg wieder ans heimische Ufer ziehen können.

Vom 23. Mai bis 3. Juni in der Schiffbauergasse. Online-Ticktes unter www.fabrikpotsdam.de. Kartenreservierung unter Tel.: (0331) 240 923

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