
© fabrik
Von Heidi Jäger: Zwischen Himmel und Erde
Am Limit: Die Compania de Paso aus Chile belebt an zehn Abenden den Horizont der Schiffbauergasse
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Mit ihrem Tanz am Trapez wollen sie den Himmel der Schiffbauergasse erobern. In zehn Meter Höhe spannt sich bereits über der Wiese zwischen fabrik und Fluxus-Museum eine imposante Konstruktion, die die sechs Artisten aus Chile heute Abend besteigen werden, um von ihrem Leben zwischen Himmel und Erde zu berichten. Dazu benötigen sie keine Worte. Ihre Körper erzählen, begleitet von Live-Musik, wie sie es sich in ihrer schwebenden Welt eingerichtet haben, welche Sehnsucht nach einem Miteinander sie auf ihren „Inseln“ verspüren.
Anders als im Zirkus geht es in der Aufführung „Un Horizonte Cuadrado“ (Ein quadratischer Horizont) nicht um eine Zurschaustellung tollster Leistungen, wie den dreifachen Salto, auch wenn durchaus akrobatische Kunststücke das einstündige „Lufttheater“ begleiten. Vielmehr soll gezeigt werden, wie es ist, wenn man auf einem Röhrchen geboren wird, sich nur an zwei Seilen festhalten kann und dabei der Gravitation ausgesetzt ist. Wie entdeckt man diese Welt und geht mit ihr um? Welche Lebensentwürfe findet man in dieser begrenzten „Behausung“, ohne die Erde zu berühren? „In 15 Bildern gehen wir der Frage nach: ,Was bin ich?’ ,Wie lebe Ich?’ Und obwohl schon 150 Aufführungen hinter uns liegen, beginnt diese Erkundung erst jetzt, richtig Spaß zu machen“, sagt der Schweizer Regisseur Ulrich Hinzel.
Nach ihrem letzten Auftritt vor Tausenden Zuschauern auf einem Marktplatz in der spanischen Stadt Salamanca schrieb ein Kritiker: „Schlussendlich haben wir begonnen, zusammen zu atmen.“ Das erhofft sich der 60-jährige Regisseur natürlich auch von Potsdam. „Dazu brauchen wir aber nicht Tausende Leute, denn es ist ein intimes Stück, das von den kleinen Gesten lebt.“ Um diese zu entdecken, können sich die Potsdamer auf einen der 150 im Kreis aufgestellten Liegestühle ebenso wie auf dem Rasen zum genüsslichen Bestaunen der abgehobenen, vielleicht gar nicht so fernen Welt niederlassen. „Denn gezeigt wird, dass einer ohne den anderen verloren ist. Ohne das weiter ausdeuten zu wollen“, so Ulrich Hirzel. Das Stück provoziert vielleicht einen anderen Blick auf uns „Erdlinge“. „Im Angesicht des Bodenlosen wird einem klarer, dass man es allein nicht schafft.“ Der Künstler freut sich, mit seiner Compania de Paso den Platz am Tiefen See in Besitz zu nehmen, auch wenn er ein bisschen Angst hat, dass Sirenengeheul von der Langen Brücke die Konzentration in der Schiffbauergasse stören könnte.
Bereits seit fünf Jahren arbeitet er mit seinen Straßenkünstlern und Artisten an „Un Horizonte Cuadrado“. Der Regisseur von Theater, Tanz und Neuem Zirkus war bereits mit Chile bestens vertraut, als er dort einen Workshop anbot, zu dem es kein Ziel, nur die Überschrift „Sein und Tun“ gab. Zehn Leute zwischen 20 und 40 Jahren, die sich vorher nicht kannten und vom Straßentheater oder Tanz kamen, versuchten, sich der eigenen Identität zu nähern. Das einzige „Halteseil“ war ein 70-seitiges Gedicht des chilenischen Dadaisten Vicente Huidobro: „ein Text von sprachgewaltiger Nonsense-Poesie. Jeder suchte sich Sätze heraus, die ihm wichtig waren und improvisierte dazu.“ Vor allem aber war Hirzel von der physischen Präsenz seiner Akteure begeistert, denen er durch sein Projekt die Möglichkeit gab, aus ihrem sozialen Umfeld auszubrechen. Sie wiederum ließen sich bedingunsglos auf etwas ein, ohne vorher zu wissen, ob es gut ist oder schlecht. „Anfangs dachten wir nicht, dass es so schwierig sein könnte, uns schwerelos zu bewegen. Doch auf einmal war die Angst da. Es brauchte viele Jahre, bis die Akteure ihr Himmelszelt so sicher in Besitz nehmen und beleben konnten. Inzwischen gibt es eine viel größere Leichtigkeit und Dramatik. Das Stück arbeitet aber auch mit der Zeit. Es hat Pausen und Längen“, sagt der Regisseur.
Zehn Vorstellungen wird es in Potsdam geben, auch am Sonntagnachmittag. „Ich ziehe aber den Abend vor. Er bringt mehr Intimität und Konzentration.“ Seine Weltmeister in der physischen Konditionierung, wie Ulrich Hirzel liebevoll die Himmelstänzer nennt, müssen täglich proben und wenigstens einmal am Tag auch am Seil hängen, um diese Arbeit am Limit zu bewältigen. Zudem ist erdendes Körperbewusstseins-Training vonnöten. „Wir müssen die Kraft aus unserem Zentrum holen, auch um uns nicht zu verletzen. Denn schon eine kleine Zerrung bedeutet das Aus für alle.“
Vor ihrer jetzigen dreimonatigen Tour durch Europa gastierten die Künstler in Peru. Ihre Auftritte im heimatlichen Chile mussten sie wegen des Erdbebens absagen. „Manchmal leben wir im 4-Sterne-Hotel, manchmal im Zelt. Ich finde alles prima und bin glücklich, dass ich so etwas noch einmal machen kann.“ Auch wenn es zwischen der Himmelseroberung und seinem zweiten Job als Direktor einer Artistik-Residenz auf dem französichen Land ein ständiges Hin und Her sei. „Manchmal weiß ich nicht mehr, wo ich wohne. Aber noch schaffe ich es.“ Und er freut sich nach den Potsdamer Nächten schon auf die in Polen, Karlsruhe und Tunesien, um auch dort zwischen Himmel und Erde Geschichten von Geburt und Tod zu erzählen und von einem solidarischen Miteinander.
Zu sehen vom 9. bis 13. Juni und 16. bis 20 Juni, jeweils 21.30 Uhr, sonntags 16 Uhr, open air an der fabrik, Schiffbauergasse, Eintritt 12/ erm. 8 Euro, bis 16 Jahre 4 Euro. Karten unter www.fabrikpotsdam.de.
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