KulTOUR: Abgeschnitten vom Hinterland
Lesung in Werder: Zwei „Westberlinerinnen“ begaben sich auf Heimatsuche in der Mark
Stand:
Werder (Havel) - Die Historie vom Bau und Fall der Mauer ist vielfach geschrieben. Aber war es das schon? Eine Veranstaltung in der Stadtbibliothek Werder brachte erstaunliche Defizite ans Licht. Es fehlte bisher „die andere Seite“, die Geschichten der Eingeschlossenen von Westberlin, derer bis heute keiner gedenkt! Dabei waren doch gerade sie vom Hinterland abgeschnitten, oder hat man eine Großstadt je „Heimat“ genannt? Viele Berliner wissen auch heute nicht, wo Nauen liegt. Dergestalt machten sich die beiden Journalistinnen Gudrun Küsel und Astrid Hoffmann auf die Suche nach dem unbekannten Draußen.
Organisiert vom Berlin-Brandenburgischen Lese-Marathon „Stadt Land Buch“, gestaltet vom Buchladen auf dem Strengfeld und der Stadtbücherei, besucht von gut einem Dutzend Hörern, berichteten die beiden von ihren Entdeckungen zwischen Spreewald und Priegnitz, auch von ihren Berührungsängsten, auf dem Wege in die Heimat. Trotzdem wurden sie fündig, sehr fündig sogar: Keiner aus der Hörerschaft könnte ja wieder behaupten, bereits alles über die Gegend zu wissen. Hätte es sonst so viel Beifall, so viele Fragen, so viele freundlichen Worte gegeben?
Die Autorinnen sind in ihrer Art schon sehr unterschiedlich. Gudrun Küsel suchte in dieser fortschrittshastigen Zeit zielstrebig nach alten und schönen Rathäusern. Das in Brandenburg brachte einer Besucherin eigene Erinnerungen an dortige Kellerverliese zurück, als man Archivforscher stundenlang einschloss, damit auch ja nichts geklaut wurde. Besonders interessant ist der Text über ein völlig unbekanntes Nauen, Kleinstadt der Filmkulissen. Werder (Havel) hat man jahrelang aus einer insularen Zweizimmer-Mietwohnung heraus regiert, ein glänzendes Vorbild für alle Schotten! Aber auch die umtriebigen Geschichten aus Kyritz an der Knatter waren hervorragend aufbereitet. Gudrun Küsel beschreibt die vierzehn Stationen ihrer Rathaus-Reise in einer gut reflektierten, mit Witz und Sarkasmen gewürzten Sprache. Dank einer Nichte an ihrer Seite könnte man gar von Gestaltungen sprechen, von großstädtischen, klar! Da lernt selbst der markigste Märker eine ganze Menge dazu.
Gleichfalls heiterer Denkart, findet Astrid Hoffmann mehr, als sie sucht. Ihr Kompass heißt Intuition, ihre Darstellungsart ist direkter, aber auch charmant. Von Otto Lilienthal erzählt sie nicht nur den „Weg vom Sprung zum Flug“, sondern auch, dass er seine Arbeiter mit 25 Prozent am Gewinn seiner Fabrik beteiligte. Weitere Texte handeln vom Wasserturm zu Niederlehme, von Ferch, das sich schon ab 1928 „Malerdorf“ nennen durfte. Oder sie veranschaulicht das innerdeutsche Nord-Süd-Gefälle anhand von trockenen und gefüllten Streuselschnecken. Zucker, das weiß die Uckermark noch heute, macht Kindern die Zähne faul und lässt Männern Glatzen wachsen.
Einem Schiffer in Niederfinow verdankte sie schließlich den Titel ihres Buches „Zeit zu verschenken“, der Reise retour die Entdeckung des neuen Verkehrsschildes „Achtung Waschbären“. Es sind wundervolle, detailgetreue Geschichten, Anekdoten, Schnurren, so recht geeignet, heimatlosen Großstädtern als auch eingeborenen Landpomeranzen ein rechtes Licht zum Fest aufzustecken. Heimat ist eben doch ein viel zu großes Wort für die jetzige Welt. Gerold Paul
Gudrun Küsel, „Brandenburgs Rathäuser“ und Astrid Hoffmann, „Zeit zu verschenken“, beide im Wartberg Verlag 2010
Gerold Paul
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: