Von Kirsten Graulich: Aderlass für Geistesleben
Ausstellung „Sie waren unsere Nachbarn“ beleuchtet dunkles Teltower Kapitel
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Teltow - Zuerst rissen sie den Zaun nieder. Dann versuchte eine Horde von SA-Männern, die Haustür in der General-Lietzmann-Allee 4 (heute Max-Sabersky-Allee) aufzubrechen. Fred Glaser konnte sich an den 9. November 1938 noch genau erinnern, als er 1996 interviewt wurde. Das Video, in Manhasset von der „Shoah Foundation“ aufgenommen, ist Teil der Ausstellung „Sie waren unsere Nachbarn“, die derzeit im Teltower Neuen Rathaus zu sehen ist.
Die Exposition aus Fotos, Dokumenten und Lebensläufen ehemaliger jüdischer Bürger aus Teltow widmet sich der Juden-Hetzjagd im Dritten Reich. In mühsamer Kleinarbeit wurden Schicksale von rund 20 Teltower Juden zusammengetragen. Vieles aus dieser Zeit war bislang nur bruchstückhaft bekannt, nur wenige Teltower erinnern sich und nicht alle sind bereit, über diese Zeit zu sprechen. Was mit den Nachbarn geschah, habe jeder sehen können, stellte die Teltower Historikerin Gabriele Bergner zur Ausstellung klar: „Es gab viele Formen, nicht zuständig zu sein.“ Mit dem Berliner Historiker Jens Leder wertete sie die Fundstücke aus Archiven und Bibliotheken aus. So wird auch das Bild von der schrittweisen Entrechtung, Verfolgung und Enteignung Teltower Juden gezeichnet, die einst geachtete Mitbürger waren.
Vielfach waren es Schikanen von Schreibtischtätern, wie zum Beispiel baupolizeiliche Auflagen. Auch der damalige NS-Bürgermeister Pilling übte Druck aus. Kurz nach der Pogromnacht erhebt er Ansprüche auf die Villa der Familie Glaser. Die versucht, schnell an einen Privatmann zu verkaufen, was der Landrat des Kreises Teltow nicht genehmigt. Die Söhne emigrieren, nach Schweden. Ein Jahr später wird das Ehepaar per fristlosem Räumungsbefehl aus dem eigenen Haus vertrieben. Die Möbel werden zum Fenster rausgeworfen, vieles gestohlen. Ihre wertvolle Bibliothek mit 5000 Büchern wird zur Zahlung der Judenvermögensabgabe gepfändet. Das Gartenhaus wird ihre Bleibe, bis es ihnen gelingt, am 5. Juni 1941 mit dem Zug und zwei Stück Handgepäck nach Portugal zu emigrieren. Urenkel Mike Glaser, der mit neun weiteren Familienangehörigen aus den USA zur Ausstellungseröffnung kam, erinnerte an dieses Kapitel der Familiengeschichte, das nun auch ein Teltower Kapitel ist.
Auch die berufliche Diskriminierung wird in der Ausstellung ausführlich beleuchtet: am Beispiel des Schicksals der Sängerin Ottilie Metzger–Lattermann. Die Mezzosopranistin, die in Konzertsälen in Wien, Petersburg, London und New York gastierte, kann ab 1933 nur noch im Jüdischen Kulturbund auftreten. Nach der Pogromnacht emigriert sie nach Brüssel, wird dort nach der deutschen Besetzung gefasst und nach Auschwitz deportiert, wo sie kurz danach in den Gaskammern von Birkenau umkommt. Auch die Schicksale von Kommerzienrat Paul Mamroth und des jüdischen Ingenieurs und Publizisten Ernst Valentin geben eine Ahnung davon, welcher Aderlass dem Teltower Geistesleben und der Wirtschaft durch das NS-System zugefügt wurde. Die Teltower „Arbeitsgruppe Stolpersteine“, die sich 2008 auf Initiative von Rolf-Dieter Bornschein gegründet hatte, beteiligt sich mit der Ausstellung an der Kunstaktion des Kölner Künstlers Günter Demnig.
Die Ausstellung ist bis 30. Januar täglich von 10 – 18 Uhr geöffnet, Marktplatz 1-3
Kirsten Graulich
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