KulTOUR: „Alles sag’ ich lieber nicht!“
Autor und Publizist Lutz Rathenow las in der „natura“-Buchhandlung Kleinmachnow
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Kleinmachnow - Ganz schön kess, den oberschulischen Unterricht in Jena mit der Begründung zu verweigern, das Lernen sei angesichts des Völkermordes in Vietnam „unerträglich“, man wolle lieber an die dortige Front, um dem imperialistischen Klassenfeind eins auf die Mütze zu geben.
Diese Episode aus seinem früheren Leben fand der Publizist und Schriftsteller Lutz Rathenow jüngst in Kleinmachnow erwähnenswert genug, um das Publikum in der „natura“-Buchhandlung über sein Verhältnis zum real-sozialistischen Staat DDR („klingt wie das Gift DDT“) aufzuklären. Allerdings waren solche Wünsche damals gar nicht so ungewöhnlich, höchstens die Idee, den Schulbetrieb auf subversive Art zu unterlaufen. Aber Lutz Rathenow hat sich bis zur Einheit gern als Störer empfunden, zudem als Edel-Dissident mit guten Beziehungen zur Kirche hie und zum Westen dort.
Jenseits der Mauer wurde 1987 der gemeinsam mit dem Radebeuler Fotografen Harald Hauswald produzierte Bild-Text-Band „Ost-Berlin - die andere Seite einer Stadt“ veröffentlicht, in Kleinmachnow nun warb der Textautor für dessen Fortsetzung „Gewendet – Deutschlands Osten vor und nach dem Mauerfall“.
Um sich als Schriftsteller vorzustellen, las der Autor anfangs ein paar Mini-Texte und Gedichte, setzte dann mit Auszügen aus dem zu präsentierenden Buch dergestalt fort, dass er einen ehemaligen SED-Funktionär und jetzigen Autohändler vor der Rückkehr des Sozialismus schauern lässt, den originären Bananen-Anteil von „Putzi“-Kinder-Zahncreme sowie den „Rechtsradikalismus in der DDR“ analysiert, die ja sein Janus-Thema bleibt: Als Berufs-Dissident und Spezialist will er einerseits eine „Stimme Ostdeutschlands“ bleiben, andererseits kann er sich nicht mit der heiß ersehnten Vereinigung von 1990 verderben. Solches Zwitterdasein entzieht seiner Feder gelegentlich etwas die Gärung, kein Wunder, wenn er sich hörbar nach den „konspirativen Zeiten“ zurücksehnt. Man staunt allerdings ganz kolossal, wie wenig Angriffsfläche ihm der heutige Westen bietet, wie dürftig der „Untergrund“ seiner aktuellen Texte ist.
Deutlich ironischer Zunge las der gute Mann eine Stunde von Fremden-unlustigen Brandenburgern, von der entstehenden „Mischkultur im Speckgürtel“ und den „kleinen Parallelwelten im Osten“, um endlich dem Publikum das Wort zu geben, Autoren müssten schließlich herausgefordert werden.
„Heute auf Streit eingestellt“, redete meistens er. Über die Penne, den Appetit seiner Thüringer Landsleute, wie viel Konspiration die evangelische und die katholische Kirche in der DDR aushielt, über die Zeitlichkeit seiner Radio-Feuilletons. Interessant ist sein Eindruck von den Fans: Bei den Lesungen im Osten trifft er zuhörende Ohren, im Westen kämen die Leute, um sich selber mitzuteilen. Befragt, wo er sich heute politisch ansiedle, antwortete er zuerst ganz spontan: „Alles sag ich lieber nicht.“ Dann wählte er, etwas unsicher, den nach Nonsens klingenden Begriff „konservativer Anarchist“.
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