Potsdam-Mittelmark: Als man in Reesdorf zu den Amerikanern wollte
Die Beelitzer Spargelkönigin arbeitet mit ihrer Schwester die Geschichte ihres Ortes auf
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Beelitz - Von der Hitlerjugend bis zur mutmaßlichen Sabotage an LPG-Betrieben: Fast 20 Jahre Dorfgeschichte haben zwei junge Reesdorferinnen für ihren Ort jetzt in einem umfassenden Zeitzeugenprojekt aufgearbeitet. Die Geschwister Andrea und Michaela Kranepuhl haben dafür neun Bewohner des kleinen Beelitzer Ortsteils befragt. „Wir hatten das schon lange vor und mussten jetzt endlich loslegen, um tatsächlich noch Zeitzeugen sprechen zu können“, sagt die 39-jährige Andrea Kranepuhl, die in Potsdam Geschichte studiert hat. Ihre Schwester, die derzeitige Beelitzer Spargelkönigin, hat ihr dabei geholfen. Jüngst haben sie einen ersten Auszug aus den Zeitzeugen-Berichten – ein Essay über die letzten Tage vor Ende des Zweiten Weltkrieges – veröffentlicht.
„Es muss damals im Ort ein furchtbares Chaos gewesen sein“, erzählt die 29-jährige Michaela Kranepuhl. In Reesdorf ist im April 1945 die Front hin- und hergerückt. Erst besetzte die Rote Armee den Ort, dann eroberten ihn die Deutschen wieder zurück. Schlussendlich kapitulierten sie, die Russen marschierten wieder ein. „Diese kurze Zeitspanne war für alle Zeitzeugen ein besonders dramatischer Augenblick in ihrem Leben – das wurde in den Interviews deutlich“, so Andrea Kranepuhl.
Das ganze Dorf wartete damals voller Angst auf den Einmarsch der Roten Armee. Das Grollen der nahenden Kämpfe war bereits seit Tagen zu hören. Mit der Schlacht um die Seelower Höhlen begann ab dem 16. April 1945 das Vorrücken der weißrussischen Front auf Berlin. Am 23. April war sie dann in Reesdorf angekommen. Vier Tage später erfolgte der deutsche Gegenangriff. „Es wurde immer schlimmer, immer lauter – wir hörten, dass es klirrte, so als ob eine Granate in unser Haus eingeschlagen war“, erzählt einer der Zeitzeugen, Rudi Kaplick. Während der Kämpfe verschanzten sich die Dorfbewohner in ihren Kellern. „Als wir wieder herausgekommen sind, lagen lauter Tote umher - Russen und Deutsche“, erinnert sich Ursula Schone.
Nicht nur die Berichte, sondern auch die Art und Weise, wie sie erzählt werden, interessiert die zwei jungen Frauen. Einblicke, wie man Zeitzeugeninterviews führt, bekam Andrea Kranepuhl als sie im Videoarchiv des Berliner Holocaust-Mahnmals arbeitete. Beim Transkribieren der Tonaufnahmen achteten sie auch auf Verlegenheitsräusper oder -lacher. „Das Erzählte kann so im Nachhinein besser interpretiert werden“, so die Historikerin. Denn es sei den Zeitzeugen schwer gefallen über einige Themen zu sprechen: „Zu den Zwangsarbeitern auf den Reesdorfer Höfen wollte sich niemand so recht äußern – ihnen ging es scheinbar allen gut“, erinnert sich Andrea Kranepuhl. Auch zu Vergewaltigungen durch die russischen Besatzer gab es fast keine Auskunft. Dabei sind sich die Schwestern sicher, dass es diese gab. Unter dem Deckmantel der Gesundheitsfürsorge wurden alle Frauen aus dem Ort von den russischen Soldaten zusammengeholt, berichtete eine Zeitzeugin.
Bevor Anfang Mai die Rote Armee das Dorf endgültig besetzte, herrschte im Ort Panik und Aufbruch: „Fast jeder Dorfbewohner versuchte über die Elbe zu kommen – zu den Amerikanern“, so Andrea Kranepuhl. In dieser Zeit war im Ort reger Verkehr: Deutsche Soldaten auf dem Rückzug, befreite Zwangsarbeiter, Vertriebene und nicht zuletzt die panischen Reesdorfer auf der Flucht stießen dort aufeinander. Das Ergebnis: Verwüstung und Plünderung. „Als wir zurückkamen, war aus den Stuben alles rausgeschmissen worden. Auf dem Hof lag ein großer Haufen – Knöpfe und Bratpfannen und sonst was alles“, erzählt Gerda Brüning. Große Teile des Dorfes blieben jedoch weitgehend erhalten: Außer einem großen Gehöft brannten nur Ställe und Scheunen ab, schreiben die beiden Schwestern.
In ihrem Zeitzeugenprojekt archivieren sie auch kleine Details, die dennoch das Dorf prägten: „Der einzige Lehrer im Dorf war zum Beispiel strammes NSDAP–Mitglied und hat die Schüler dementsprechend unterrichtet“, so Andrea Kranepuhl. Die mutmaßliche Sabotage an LPG–Betrieben stellte sich als Zündelei von Kindern heraus.
Die Vergangenheit des eigenen Dorfes aufzuarbeiten ist für die Frauen nicht immer einfach: „Es ist ein Drahtseilakt – als Historikerin setze ich auf Quellen, als Reesdorferin will ich weiterhin mit den Dorfbewohnern in Ruhe zusammenwohnen“, so Andrea Kranepuhl. Dennoch sei die Arbeit an einer Dorfchronik für sie und ihre Schwester ein Lebenswerk, sagt sie bestimmt. Kritische Töne müssten erlaubt sein. Demnächst werden die beiden Frauen die letzten Vertriebenen interviewen, die nach Reesdorf kamen. „Danach geht es weiter mit Interviews zur Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR“, stellt Andrea Kranepuhl in Aussicht.
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