Von Henry Klix: Bohnenkaffee kostete extra
In einem Zeitensprünge-Projekt recherchierten Mitglieder des Jugendklubs zum Kurhaus in Ferch
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Schwielowsee - Warum wurde das Kurhaus in Ferch nach der Wende abgerissen? Ein Dutzend Jugendliche der Fercher Jugendgemeinschaft hat sich diese Frage gestellt. Innerhalb eines „Zeitensprünge“-Projektes der Stiftung Demokratische Jugend recherchierten sie zur Geschichte des Gebäudes, das bis 1989 den gesellschaftlichen Mittelpunkt des Dorfs bildete. Die jetzt vorliegende 44-seitige Broschüre „Das verschwundene Pierre-Semand-Haus“ ist das Ergebnis – voller Fakten, Fotos und Dokumente.
Mit dem alten Dörre und seinem Dorfkrug hat die Geschichte im 17. Jahrhundert ihren Anfang genommen. Durch Um- und Ausbauten wurde das Haus bis zum 19. Jahrhundert zum „Gasthaus zur Erholung“. Nach dem Ersten Weltkrieg baute Albert Habermann das Anwesen zum mondänen „Kurhaus“ mit 40 Zimmern um. Großer Saal, Kegelbahn, Weinterrasse und ein Gatter für seine Rennpferde gehörten zum Ensemble. Schauspieler wie Hans Albers, Marika Rökk und Emil Jannings aber auch Nazi-Größen wie Goebbels und Göring legten in den 30er und 40er Jahren am hauseigenen Dampferanleger an und ließen sich im Kurhaus bewirten. 1944 wurde es zum Wehrmachtslazarett, kurz darauf SS-Schule.
Die Gruppe der 17- bis 21 Jahre alten Jugendlichen hat etliche Zeitzeugen befragt, Archive durchforstet und Unterlagen ausgewertet, um diese Daten zusammenzutragen. „Mit dem Projekt haben wir versucht, für nachfolgende Generationen die imposante Entwicklung festzuhalten“, sagt Katja Bredow, die mit Kristin Jacobsen den Kern des Teams bildete. Auch wenn die Jugendlichen das Kurhaus meist nicht mehr kannten, so haben ihre Eltern hier Karneval und Geburtstage gefeiert, das Tanzbein geschwungen, Kino-, Theatervorführungen und Diavorträge erlebt oder gearbeitet, erklärt die Jugendkoordinatorin von Schwielowsee, Petra Borowski. „Der ganze Ort hat emotional am FDGB-Heim gehangen. Das hat sich auf die Jugendlichen übertragen.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Kurhaus zur Landwirtschaftsschule, bevor es 1959 vom „Freien Deutschen Gewerkschaftsbund“ (FDGB), einer DDR-Massenorganisationen, übernommen wurde. Als „FDGB-Erholungsheim Pierre Semand“ ist es den Ferchern ein Begriff, Semand war ein französischer Eisenbahngewerkschafter und Kommunist. Der FDGB-Feriendienst stellte Urlaubsplätze für „Werktätige“ zur Verfügung, 85 Betten gab’s im Haus, in Bungalows und Privatzimmern weitere 114. In manchen Monaten waren 600 Feriengäste im „Pierre Semand“, Bohnenkaffee zum Frühstück kostete extra. In der historischen Fercher Burg gab es seit den 70ern sogar eine Nachtbar für die FDGB-Gäste, die Mixgetränke hießen „Blutgeschwür“ oder „Spinat mit Ei“. Zeitweise wurden im Rahmen der „Jugendtouristik“ Kinder und Jugendliche aus sozialistischen Bruderländern beherbergt. Das Heim war ein Vorzeigeobjekt im Bezirk Potsdam.
Nach der Wende gab es Pläne für ein riesiges Hotel an dem Standort – das Heim wurde abgerissen, der Hotelinvestor ging pleite. Jetzt soll das Grundstück mit Einfamilienhäusern und einem Restaurant bebaut werden. „Ausschlaggebend für den Abriss war das Versprechen, ein neues Seehotel entstehen zu lassen“, resümieren die Jugendlichen. Der alte Bau sei hinfällig gewesen, statt in die Sanierung wurde in den DDR-Jahren lieber in importierte Früchte investiert, um ausländische Jugendtouristik-Gäste zu beeindrucken. Den 1992 versprochenen Neubau hätten viele Fercher als Chance für das Filetgrundstück gesehen. Das es anders gekommen ist, sei niemandem allein anzulasten.
Die Broschüre gibt es in „Ralles Imbiss“, Beelitzer Straße 50, in Ferch oder im Touristenbüro in Caputh, Straße der Einheit 3.
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