Potsdam-Mittelmark: „Da ist ein Schatz zu heben“
Das Gut Reckahn war ein Vorbild für Schulen in ganz Europa. Am Wochenende ist hier lit:potsdam mit Peter Sloterdijk zu Gast
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Frau Eichel, Sie kuratieren das Themenwochenende „Reformation und Leselust“, das heute und morgen in Reckhan bei Kloster Lehnin stattfindet. Warum haben Sie sich diesen kleinen Ort ausgesucht – was hat er mit Luther zu tun?
Die Volksbildung lag Luther sehr am Herzen. Er wollte ja jeden Gläubigen ermächtigen, die Bibel selbst zu lesen und auszulegen. Das ging mit einer großen Bildungsambition einher, denn alle Stände sollten Lesen und Schreiben lernen. Das hat früh zu einer breiten Lesekompetenz der Protestanten geführt. Die Protestanten waren diejenigen, die auch am stärksten die aufklärerischen Ideen von Freiheit und Gleichheit rezipierten. Nicht nur philosophisch wie Kant, sondern eben auch jener Friedrich Eberhard von Rochow.
Der Gutsherr von Reckahn
ein Gutsherr, der fand, dass seine Bauern und Angestellten auf dem Gutshof Lesen und Schreiben lernen sollten. 1773 gründete er eine Dorfschule, die stilprägend wurde für ganz Europa. Er entwickelte ein reformpädagogisches Konzept und ließ auch die Mädchen zur Schule gehen, damals etwas völlig Neues. Mit dieser Schule verwirklichte er den protestantischen Gedanken der breiten Volksbildung.
Hat das denn Widerhall gefunden?
Einen geradezu sensationellen Widerhall. Mehr als 1000 Besucher aus ganz Europa reisten damals an, um sich einen Eindruck von dem philanthropisch-aufklärerisch ausgerichteten Konzept zu verschaffen. Später wurde dieser Volksschultypus in ganz Preußen eingeführt, dann auch in anderen Ländern und schließlich in ganz Europa. Eine Idee war etwa, die Schüler in zwei Klassen einzuteilen. Auch die Schulbücher waren neu: Von Rochow schrieb selbst ein Lesebuch, „Der Kinderfreund“, mit lehrreichen, interessanten Geschichten. Es sollte motivieren, zu lesen. Diese Idee war wegweisend – Friedrich Eberhard von Rochow ging es darum, die Leselust auch bei ganz einfachen Jungen und Mädchen zu wecken.
Ist der „Kinderfreund“ heute überhaupt noch lesenswert?
Ja, das ist ein tolles Buch. Kleine Alltagsgeschichten aus dem dörflichen Umfeld, mit einem unterhaltenden Aspekt. Da wird zum Beispiel beschrieben, wie man jemanden vor dem Erfrierungstod rettet, oder „Die Kunst, ohne Reue fröhlich zu sein“. Ich glaube, dass es für uns auch heute noch spannend ist, in die Welt des 18. Jahrhunderts einzutauchen.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum von Rochow in Vergessenheit geraten ist?
Reckahn ist ein kleines Dorf, und wir schauen ja heute mehr auf die Kultur der großen Städte und Metropolen. Doch Reckahn ist ein Schatz, der gehoben werden muss – mit dem wunderschönen Schloss und der original erhaltenen Dorfschule, in der Besucher sogar eine rekonstruierte Unterrichtsstunde miterleben können.
Reckahn war für Sie selbst auch eine Entdeckung?
Absolut. Und ich denke, dass für die lit:potsdam der regionale Bezug sehr wichtig ist, auch um ein Gefühl für die historische Dimension in der eigenen Region zu entwickeln, sich die Wurzeln unserer Kultur zu vergegenwärtigen. Das ist ja alles nicht vom Himmel gefallen. Deutschland ist auch deshalb zum Land der Dichter und Denker geworden, weil die Protestanten sehr viel Wert darauf legten, dass die Kinder lesen und schreiben lernten. Deshalb gab es früh eine ungewöhnlich breite Alphabetisierung. Ein Historiker prägte das Bonmot: „Frankreich hatte die politische Revolution, England die industrielle, Deutschland hatte die Leserevolution.“ Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern existierte hierzulande bereits im 18. Jahrhundert das größte Lesepublikum. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, dass wir heute den zweitgrößten Buchmarkt der Welt haben nach den USA, obwohl Deutschland viel kleiner und Deutsch keine Weltsprache ist, dann kann man ermessen, wie vital diese Tradition des Lesens fortwirkt.
Welche Schwerpunkte haben Sie bei der Gestaltung des Programms gelegt?
Mir waren zwei Dinge wichtig. Zum einen, das Thema Reformation und Bildung in Erinnerung zu bringen, das vielen gar nicht bewusst ist. Zum anderen, nicht nur eine Gedenkkultur zu zelebrieren, sondern das Thema Bildung weiterzudenken. Wir debattieren ja heute wieder darüber, welches Menschenbild den Bildungskonzepten zugrunde liegt. Bei Luther war es der Aspekt des eigenständig denkenden mündigen Christen. Heute fragen wir uns: Haben wir noch ein humanistisches Bildungsideal? Wollen wir das Human Capital im Sinne der menschlichen Ressourcen für den Arbeitsmarkt entwickeln? Oder ist in einer multikulturellen Gesellschaft ein weltoffenes, integratives Konzept angebracht? Für mich ist deshalb wichtig, dass sich zu den Vorträgen auch Diskussionen gesellen, die das Thema aktualisieren und für das Heute weiterdenken.
War es denn ein Leichtes, den Philosophen Peter Sloterdijk für Luther und die Reformation zu begeistern?
Zu meiner Überraschung und Freude haben alle Referenten spontan zugesagt. Sloterdijk als unser Meisterdenker wird den reformatorischen Impuls geistesgeschichtlich erläutern. Gespannt bin ich auf die Schriftstellerin Thea Dorn, die das Menschenbild Luthers als eine Voraussetzung seines Bildungskonzeptes beleuchtet. Sehr viel verspreche ich mir auch von der Veranstaltung mit Durs Grünbein, der zunächst sagte: „Um Gottes Willen, Protestantismus ist alles das, was ich nicht mag an der deutschen Kultur: bilderfeindlich, lustfeindlich, obrigkeitshörig.“ Es wird also auch eine kritische Auseinandersetzung stattfinden.
Das Gespräch führte Grit Weirauch
Christine Eichel, Jahrgang 1959, ist promovierte Philosophin. Sie lebt als freie Autorin und Moderatorin in Berlin. Zuletzt erschien ihr Buch „DeutschlandLutherland“ im
Blessing-Verlag.
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