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Potsdam-Mittelmark: Das Leiden der Ärzte

Der Teltower Orthopäde Henning Leunert bekommt für einen behandelten Patienten im Quartal 20 Euro

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Teltow - „Noch mal Glück gehabt“, befindet Henning Leunert. Als der Teltower Arzt die Honorarabrechnung für das vergangene halbe Jahr in den Händen hielt, stand unterm Strich zwar ein Minus: 15 Prozent weniger als erwartet hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Brandenburg der Orthopädischen Praxisgemeinschaft überwiesen. Doch anderen Kollegen erging es wesentlich schlechter: Einbußen bis zu 30 Prozent müssen sie verkraften. Nicht alle können das: 300 märkische Arztpraxen, so die KV, stehen vor dem Ruin. Leunert selbst kennt Ärzte, die ihre Praxis schließen wollen, um sich nicht weiter zu verschulden. Seine eigene Praxis kompensiert einen Teil der Verluste mit ambulanten Operationen, die besser honoriert werden.

Es ist kein Tritt vors Schienbein, der die Ärzteschaft derzeit zum kollektiven Aufschrei treibt. „Es geht um die blanke Existenz“, versichert Leunert, dem das Schicksal einiger Kollegen, die sich am vergangenen Freitag in die Potsdamer Protestkundgebung einreihten, „unter die Haut ging“. Es krankt offenbar gewaltig im Gesundheitssystem: Bislang waren nach den Quartalsabrechnungen 300 bis 500 Ärzte die Regel, die sich mit den Zahlungen nicht einverstanden erklärten. Nach der neuesten Abrechnung „liegen uns 1300 Widerspruchsschreiben vor“, so Ralf Herre, Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg.

Orthopäde Leunert diagnostiziert gleich mehrere Schwächen im gegenwärtigen Abrechnungssystem. Besonders empfindlich wirkt sich die Hartz-IV-Regelung aus. Früher reichten die Krankenkassen Zahlungen der Arbeitsämter als eine Kopfpauschale von 300 Euro an die Kassenärztlichen Vereinigungen weiter. Seit Jahresanfang gibt es dafür die Familienversicherung, das heißt: Ärzte behandeln Angehörige von Hartz-IV-Empfängern, ohne dafür bezahlt zu werden. Das „enorme Missverhältnis“ zwischen erbrachten Leistungen und der Vergütung (Herre) ist für Leunert nur durch eine Rücknahme der Honorarregelung bei der Behandlung von Hartz-IV-Empfängern zu heilen.

Zudem macht den Ärzten die vermeintliche Unterversorgung durch die Kassen zu schaffen: Diese Schulden der KV laut Herre 15 Millionen Euro. „Wir klagen das zwar gerichtlich ein“, so der Sprecher. Doch bis Justitia ein Urteil gesprochen hat, dürfte in einigen Fällen der prognostizierte Praxistod eingetreten sein.

Schließlich, so Leunert, könne man die eigenen Probleme der Kassenärztlichen Vereinigung bei der neu geregelten Verteilung der Honorare nicht leugnen. „Da geht vieles durcheinander“, moniert der Arzt. Das Budget, das seine Praxis für ein Vierteljahr zugeteilt bekommt, sei bereits nach acht Wochen aufgebraucht. Die Gemeinschaftspraxis im Teltower Gesundheitszentrum bekommt ein Budget, das nur für 1720 Patienten ausreicht. Um das Budget überhaupt zu bekommen, müssen die beiden Orthopäden aber 2174 Patienten behandeln. Unterm Strich bleibt eine Zahl, die das Dilemma der Ärzte recht nüchtern dokumentiert: Im Quartal bekommt Leunert für die Behandlung eines Patienten 20 Euro.“

Immerhin: „Noch können wir die Patienten versorgen, doch bei manchen Behandlungen nur noch eingeschränkt“, sagt KV-Sprecher Herre. Für die Zukunft der Weißkittel sieht er schwarz. „Viele Ärzte im Land sind 60 Jahre und älter.“ Spätestens in vier Jahren stehe man vor einem „Riesendilemma“. „Dann wird jeder dritte Arzt in Brandenburg seine Praxis geschlossen haben“, so Herre. Bei der enormen Arbeitsbelastung, dem bürokratischen Aufwand und dem geringen finanziellen Ausgleich sei es immer schwieriger, Nachfolger für die Praxen zu finden. Hinzu kommt bei nicht wenigen Ärzten die Belastung durch Kredite, die für Praxisgründungen und -einrichtungen aufgenommen wurden. Nach zehn Jahren werden die Tilgungen fällig, Zinsbindungen laufen aus. „Die Zeit ist zu kurz, um sich etwas zurückzulegen“, weiß Leunert um die finanziellen Engpässe seiner Kollegen.

Von den 1300 Widerspruchsschreiben sind in der KV bisher erst 400 gelesen worden. Allein darunter sind 30 Mediziner, die sich gezwungen sehen, ihre Praxen noch in diesem Jahr zu schließen. Regionale Unterschiede kann Leunert, Bezirkschef des Berufsverbandes der Orthopäden, nicht ausmachen. Die Region Teltow, die bei Bevölkerungsentwicklung oder Schülerzahlen kaum unter Mangelerscheinungen wie etwa die Uckermark leidet, „steht in diesem Fall nicht besser da als der Rest des Landes“. 319 Ärzte gibt es im Landkreis Potsdam-Mittelmark und der Stadt Brandenburg. „Laut Statistik zur Berechnung des Versorgungsgrades wären wir damit sogar überversorgt“, heißt es bei der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg. Doch alle Theorie sei grau: Viele Ärzte, vor allem Spezialisten wie Augenärzte oder Orthopäden, seien schon seit langem überfordert. Ein Zustand, der durch die Honorarpolitik noch verschlimmert werde.

Drei Honorarkürzungen hat Leunert seit seiner Praxiseröffnung vor neun Jahren überstanden. Immer wenn er dachte, schlimmer geht es nicht, wurde er eines Besseren belehrt. Jetzt spricht er vom „Tiefpunkt“. Er erwartet, dass Politik, Kassen und Kassenärztliche Vereinigung aufhören, sich den Schwarzen Peter zuzuschieben, sich stattdessen an einen Tisch setzen und eine vernünftige Honorarpolitik entwickeln. Sein Rezept klingt verständlich: „Wir wollen nach unseren wirklich erbrachten Leistungen und einem festen Bewertungsmaßstab bezahlt werden.“ Zudem glaubt Leunert, dass medizinische Versorgungszentren wie das Teltower Ärztehaus, eine zukunftsfähige Alternative zu Single-Praxen sind. Durch mögliche Kooperationen lasse sich wesentlich wirtschaftlich arbeiten. So lässt sich für den Orthopäden die Schmerzgrenze etwas verschieben.

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