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KulTOUR: Den restlichen Benn entdeckt

Studenten des Leipziger Literatur-Instituts dichteten den „wichtigsten Auto des 20. Jahrhunderts“ weiter

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Michendorf · Wilhelmshorst - Nicht Rilke, Brecht oder Trakl wurden unlängst von „Autoren der Gegenwart“ zum „wichtigsten Dichter des 20. Jahrhunderts“ gewählt, auch Peter Huchel nicht, sondern ein Lyriker ganz zwischen schroffster Ablehnung und heimlichster Bewunderung, Gottfried Benn (1886-1956) nämlich, Dichter des Expressionismus und praktizierender Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten.

Die Literaturwissenschaft alter Zeitrechnung (DDR) zählte ihn zu den faschistoiden und dekadenten Dichtern, obwohl ihn die Nazis weniger begrüßten als er sie, weil er dem „progressiv-humanen Menschenbild“ die harte Realität der Krebsbaracken entgegenhielt, weil er „abstoßende und bestialische Stoffe und Themen“ behandelte. Dennoch wurde er gedruckt. Nach freiwilligem Kriegseinsatz als Lazarettarzt veröffentlichte er ab 1948 in Westdeutschland Gedichte, Essays und Prosa. Man ehrte ihn dafür, man lehnte ihn radikal ab – wie Huchel, der sein Werk „Gewölle einer kleinen abendländischen Eule“ nannte und sich dann erlaubte, den bösen Zeitgenossen ein wenig zu korrigieren.

Es zählt zu den Wundern der Zeit, dass nun Studenten des Leipziger Literatur-Institutes mit seinen Fragmenten auch den „restlichen“ Benn für sich entdeckten. Die Schriftsteller Arne Rautenberg und Raphael Urweider erkannten schon 2002 das Unvollendete des gesammelten Werkes als fruchtbaren Grund, daraus eine neue Literatur erstehen zu lassen. Sie interessierten Kollegen und einen Verlag. Fast wäre es zu einer Anthologie gekommen, wenn Benns Stamm- und Nachlass-Haus Klett & Cotta nicht in letzter Minute Nein gesagt hätte.

Umso froher war am Freitagabend Uwe Seiler, im Wilhelmshorster Huchel-Haus 16 der vierzig am Projekt „Benn beenden“ beteiligten Autoren zu einer Exklusiv-Lesung begrüßen zu dürfen. Trotz des vereisten Hubertusweges fand sich genügend Publikum ein, um den Veranstaltungsraum voll und gemütlich wirken zu lassen. Die nach der Schnur vortragenden Lyriker merkten zuerst, wie wenig man Gottfried Ben, vollendet oder nicht, als bekannt voraussetzen durfte.

Wider eine Empfehlung benannten sie jene Stellen, auf die sich ihre eigenen Verse bezogen, völlig in Ordnung. Ausgehend von der Sentenz „Ich weiß nur, wann das Einzelne fertig ist. Das Ganze ist niemals fertig“ (1932) setzten sie sich auf höchst unterschiedliche Weise mit ihm ins ganz persönliche Benehmen.

Keinem fiel es ein, ihn in Grund und Boden zu stampfen, im Gegenteil: Man hatte den Eindruck, als folgten ihm so ziemlich alle nach, zumindest seiner ästhetischen Form, des Geistes wegen. Die Jungen favorisierten fragmentierte Sequenzen wie „zwischen den Zeiten sitze ich fest“, „die Welt ist kein erweiterter Uterus“ und „es ist ein Garten da vor allen“, woraus Diana Feuerbach eine poetische Paraphrase auf den Garten Eden machte. Das Herangehen an die Vorgabe war sehr verschieden: Manche präsentierten vier (Katja Thomas, stellvertretend für alle) Versuche, viele nur einen, um dem Bedürfnis nachzugeben, Gedichte eigener Feder oder die von Kollegen vorzutragen, etwa die Störtebecker-Anekdote Jan Wagners.

Bertram Reinicke gestand frei heraus, überhaupt „kein Benn-Verehrer“ zu sein, aus Syphilis und Hölderlin-Anleihen ließ er anderes hören, nicht schlecht. Schlecht war überhaupt nichts an diesem Abend, nur ernsthaft, witzig, oder temperiert, weil Norbert Lange, von Leipzig her auf der Bahnfahrt, mit Benn ein Lob auf seine nicht erfrorenen Zehen verfertigte. Da war nun nix mehr zu vollenden

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