zum Hauptinhalt

Von Tobias Reichelt: Der Eisenbahn-Tüv in der Krise

Obwohl es derzeit weniger Arbeit gibt, wirbt die Servicewerkstatt Seddin um Nachwuchs

Stand:

Seddiner See – Im Prinzip ist das mit der Eisenbahn wie beim Auto: „Wenn die Reifen abgefahren sind, müssen sie gewechselt werden“, sagt Ulf Dittrich und zeigt auf ein knapp drei Tonnen schweres und sichtlich in die Jahre gekommenes Radlager einer rot gestrichenen Diesellokomotive russischer Bauart. Mehrere Tage könne es dauern, bis die abgefahrenen Radsätze einer solchen knapp 120 Tonnen schweren Zugmaschine gewechselt sind, erklärt Dietrich. Sozusagen zum Eisenbahn-Tüv werden die Loks der Deutschen Bahn regelmäßig zur Kontrolle und Reparatur in eine der größten Eisenbahnwerkstätten in Deutschland am Cargo-Bahnhof Seddin gebracht. Im Zuge der Konjunkturflaute stehen jedoch auch in Seddin jetzt viele Räder still.

„Ja, es ist so, die Wirtschaftskrise ist bei uns angekommen“, sagt Ulf Dittrich, der schon seit 1985 bei der Bahn beschäftigt ist. Als Elektroinstallateur begann er seine Lehre, gestern führte der zum Leiter des Kombiwerks Seddin aufgestiegene Dittrich eine kleine Gruppe von Nachwuchs- und Hobbyeisenbahnern durch die Werkstatthallen am Güterbahnhof. In welchen Dimensionen die Eisenbahnmechaniker hier arbeiten, wird beim Anblick ihrer zum Teil martialischen Werkzeuge klar: Mit Pressluft werden ausgebeulte Güterwaggons hier mithilfe zweier Metallstempel wieder in Form gedrückt, erklärt Dittrich. Schon eine einfache Holzschnitzel-Ladung kann die tonnenschweren Stahlkolosse auseinanderdrücken. Wird die Fracht nass und quillt auf, hilft nur noch Gewalt, um die Waggons zu richten.

Im Moment geht es jedoch eher ruhig zu in der Waggonwerkstatt. Knapp 20 Prozent der fast 200 Mitarbeiter wurden im vergangenen halben Jahr in Kurzarbeit geschickt. Ebenso wie Binnenhandel und Exporte einbrechen, werden in Seddin weniger Waggons und Loks repariert. Sie werden nicht mehr gebraucht. Noch vor wenigen Monaten arbeiteten die Mechaniker rund um die Uhr an jedem Tag des Jahres daran, um täglich bis zu 35 Waggons und 25 Lokomotiven zu reparieren und zu warten. Sogar voll beladen können die Waggons nach einem Zwischenstopp in Seddin mit wenig Zeitverlust wieder auf die Strecke geschickt werden. „Wir haben ideale Voraussetzungen“, sagt Dittrich und macht sich Mut. Gerade erst habe die Bahn knapp 1,2 Millionen Euro in die Werkstatt investiert. Nehme der Handel mit Osteuropa und Russland wieder zu, sei man gut gerüstet.

„Im Moment haben wir unter unseren Mitarbeitern einen Altersdurchschnitt von rund 48 Jahren“, wirbt Ulf Dittrich bei den mitgereisten Schülern und Studenten. Sie sollten sich am Tag der offenen Tür in der Seddiner Eisenbahnwerkstatt ihre womöglich künftige Arbeitsstätte ansehen. In knapp zwei Jahren werde keiner seiner Mechaniker unter 40 Jahre alt sein. Doch die mitgereisten Schüler haben andere Interessen. Statt in der Öölgeschwängerten Werkstattluft an großen Lokomotiven zu schrauben, will die Berliner Abiturientin Laura Stürzbecher lieber studieren. „Ich will heute mal reinschnuppern“, sagt sie und bittet Dittrich um eine Visitenkarte. In Mathe und Englisch sei sie gut und andere Sachen, wie Medizin oder Soziologie, interessierten sie nicht. Logistik sei interessant, deshalb will sie dorthin gelangen, woran Student Daniel Budnick bereits seit sechs Semestern arbeitet: an einem Studienabschluss in Logistik. Die Branche sei im Wachstum, erklärt der Student. Die mahnenden Worte von der Krise können ihn nicht bremsen.

Warum auch, sagt Ulf Dittrich selbst: An den alten Loks gibt es immer etwas zu reparieren. Mitunter 30 bis 40 Jahre seien die Maschinen alt – aber noch gut für einige tausend Kilometer. Gerade in Krisenzeiten werde eine Neuanschaffung eher zurückgestellt. „Mit den alten gehts auch“, sagt Dittrich. Und dem Kunden sei es egal, ob die Lok vor dem Zug glänzt: „Hauptsache, die Bahn kommt pünktlich.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })