KulTOUR: Der Mensch als Tier
Melodisch im Rhythmus, dunkel im Timbre: Der isländische Dichter Sijón im Huchel-Haus
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Michendorf - „In Island ist jeder ein Künstler. Wir sind so wenige, da wird jeder gebraucht.“ Knapp und präzis beschreibt der isländische Dichter Sigurjón Birgir Sigurdsson alias Sjón sein Verhältnis zu Land und Leuten und dem, was man Kunst nennt. Der hochgewachsene Nordländer hat viele Talente, er schreibt Gedichte und Romane, verfasst Libretti und Texte für moderne Songs, die er teilweise sogar öffentlich singt. In Wilhelmshorst hat er das zwar nicht getan, dafür weiß er, wie man den schwarzen „Schattenfuchs“ jagt, sich surrealistischen Vokabulars bedient. Wie der „Gesang des Steinesammlers“ klingt.
Im Rahmen des „Berliner Künstlerprogramms“ vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) war er am Mittwoch im gutbesuchten Huchel-Haus zu Gast, wodurch der immer noch vereiste Ort wiederum an internationalem Flair gewann. Lutz Seiler übrigens auch, er entschuldigt sich ab Februar für ein Jahr, Villa Massimo! Die kluge und charmante Katharina Narbutovic moderierte den englisch geführten Abend, Hausherr Seiler las die deutschen Übertragungen mit erlesener Qualität. Auch Islands Botschafter war unter den Gästen. Er glaubt, dass Sjón in gewisser Art der „Erneuerer“ einer hier völlig unbekannten Barock-Literatur Islands sei.
Bei diesem Schriftsteller sind Poesie und Lyrik wirklich blutsverwandt. Auf der gegensätzlichen Natur der Insel und ihren alten Sagas fußend, von den zweierlei Farben des Lichtes auf ihr zehrend, stellte sich der 1962 geborene Dichter früh in die Tradition des alten Surrealismus. Allerdings suchte er nach einer „minimalistischen Variante“. David Bowie half ihm im Geiste dabei. So hörte man Sjóns Verse in der originalen Sprache, melodisch im Rhythmus, dunkel im Timbre, nicht ohne Freude und Heiterkeit. Sie entstammen dem einzigen ins Deutsche übertragenen Band, „Gesang des Steinesammlers“, wo sein lyrisches Ich die verloren geglaubte Kollektion aus Jaspis, Opal und Schwefelstein in der Dunkelheit einer Einbahnstraße wiederfindet: „sie ist nicht verloren, ist hier!“ Alles, was er dichtete, steht in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen Ich und Du, zwischen Innen und Außen, zwischen Sjón und der Welt. Sie umarmt er in einem respiratorischen („sprecht mir nach...“) Lied von Kirkuk über Harare bis nach Osaka, und was er da von Lippen bis Zuckerdosen aufzählt, „wird dir gehören, wenn ich aufgewacht bin“. Der Surrealismus und die Sprache der Sagas gehören bei ihm so zusammen wie Floh und Blauwal: Wenn sie sich im Lexikon begegnen, sind sie gleich groß.
Er beschreibt eine Begegnung zwischen Marie Curie und Edvard Munck, daraus ein Bild entstand – verschollen. Immer wieder Schlaf, Erwachen und Verschwinden, noch im Heidehochland der Insel, wo sich sein eigener Schritt verliert. Sjon unterscheidet strikt zwischen Lyrik und Songtexten, auch zwischen Gedichten und Prosa, letztere sei bei ihm traditioneller, zudem „mehr in der Vergangenheit verortet“. So beschreibt sein zweiter Roman „Gleißende Nacht“ am historischen Beispiel den Kollaps seiner Gesellschaft von 2008.
Lyrik aber voran, Lyrik ist Surrealismus, also Gegenwart, Dialog. So lässt er die menschlichen Innereien miteinander kommunizieren, bis der Blasenkobold sich einmischt, beschreibt ein Familienidyll plus Ren unterm Bett – und der Gatte haut ab, eine „Dreikönigs-Prozession“ mit weltlichem Blick. Was ihn interessiere? „Ich sehe den Menschen als Tier an. Der Mensch als Tier beschäftigt mich.“ Jeder ist eben ein Künstler.
Gerold Paul
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