Potsdam-Mittelmark: Der Tag, an dem die Russen kamen
Zum Kriegsende vor 70 Jahren marschierte die Sowjetarmee auf dem Weg nach Potsdam in Bergholz-Rehbrücke ein. Für Wolfgang Adam ein wichtiger Teil seiner Kindheitserinnerung
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Nuthetal - Der kleine Wolfgang Adam hatte sich die feindlichen Soldaten anders vorgestellt, so bunt wie auf dem Ölbild der Nachbarin aus der Kaiserzeit vielleicht. Doch was an diesem Frühlingstag des Jahres 1945 aus dem Kiefernwald kommt, sieht finster aus, schwarz. „Wir Kinder stehen an diesem Nachmittag am Küchenfenster und sehen die Gestalten zuerst“, sagt Adam. 70 Jahre ist das her.
Schon Tage vorher seien Explosionen zu hören gewesen, so der heute 76-jährige Zeitzeuge. Die Propaganda habe nicht nur seiner Mutter Frieda Adam Angst gemacht. In der Nachbarschaft erschlägt eine Frau ihre beiden Töchter mit einer Axt, nimmt sich danach mit der Pistole das Leben, die ihr Mann beim Fronturlaub hinterlassen hatte. „Wenn die Russen kommen, erschießt euch“, hatte er gesagt.
Der inzwischen verstorbene Nuthetaler Ortschronist Detlev Lexow hat dem Einmarsch der Russen ein Kapitel der Ortschronik gewidmet. Seit dem 21. April sei Geschützdonner zu hören gewesen. Einen Tag später richtet Marschall Iwan Konjew in Schenkenhorst das Hauptquartier seiner 4. Garde-Panzerarmee ein, um von hier aus in drei Stoßrichtungen Potsdam zu erreichen: über Caputh, Saarmund und Drewitz. „Noch am gleichen Tag stießen Panzerspitzen über Saarmund bis Caputh vor. Potsdam-Rehbrücke wurde am 23. April nach einem kurzen Gefecht an der Autobahn besetzt“, schreibt Lexow. Die Panzersperren, die Volkssturmeinheiten an den Ortseingängen aufgestellt hatten, sind kein großes Hindernis.
Für den damals sechsjährigen Wolfgang Adam ist es eine einschneidende Erfahrung. Die Soldatenköpfe wirken, wie sich zeigt, durch die Panzerhauben schwarz. Innerhalb von Minuten habe eine Gruppe Rotarmisten in der Küche gestanden und auf seine Mutter eingeredet. Einige Monate zuvor hatte sie eine Schwarzmeerdeutsche, Claudia Scherle, aufgenommen, die aus Odessa geflüchtet war. Claudia habe sofort verstanden, dass die Soldaten nur Wasser wollen. „Meine Mutter kramt vor Aufregung im Küchenschrank und will Milch- und Thermoskannen mit Wasser füllen.“ Doch einer der Soldaten hat schon die gefüllten Wassereimer auf der Bank entdeckt. „So schnell wie die Russen in die Küche kamen, sind sie verschwunden.“
Der Vormarsch erfolgt gleichzeitig über die Friedensstraße nach Rehbrücke und über die Eosanderstraße nach Bergholz, wie es in der Ortschronik heißt. Nach Gefechten zwischen dem Bahnhof Rehbrücke und Potsdam erreichen die Truppen am 24. April die inzwischen gesprengte Lange Brücke. Die Kämpfe um Potsdam ziehen sich dann bis zum 26. April hin. Bergholz-Rehbrücke bleibt von sinnlosen Gemetzeln weitgehend verschont. Auch wenn die Sowjetsoldaten ein Zielschießen auf die Dokumentenkugel am Wetterkreuz der Bergholzer Kirche veranstalten – größere Schäden gibt es im damals zu Potsdam gehörenden Vorort nicht. In der Leibnizstraße fliegt noch ein Panzergeschoss quer durch ein Haus – ohne zu explodieren.
Erschreckend hoch ist indes die Zahl der Selbstmörder, nicht nur unter Unterstützern des Naziregimes. Überlebende NSDAP-Mitglieder werden zu Aufräumarbeiten verpflichtet und müssen Leichen umbetten, die in den Kriegswirren auf Grundstücken verscharrt worden waren. Plünderungen, Vergewaltigungen und Repressalien sind an der Tagesordnung. Daneben hat Ortschronist Lexow aber auch Erinnerungen dokumentiert, die nicht in das übliche Schreckensklischee jener Zeit passen, Erinnerungen an Zuspruch und Hilfe seitens der Soldaten.
Das deckt sich mit Adams Erfahrungen. So bringen Soldaten einen Wasserkessel voll Honig vorbei, als Adams von Ruhr und Hunger völlig geschwächt sind. Wolfgang Adam glaubt, dass ihm und seiner Mutter die Anwesenheit der jungen Schwarzmeerdeutschen Claudia damals sehr geholfen hat. Noch am Tag des Einmarsches schreibt Claudia mit Kreide einen Satz in kyrillischen Buchstaben an die Hauswand – wohl ein Hinweis, dass hier Freunde der Rotarmisten wohnen. Seine Mutter verdient sich mit Näharbeiten für die Soldaten, die Claudia vermittelt, etwas dazu.
Dann gab es aber auch Begebenheiten wie diese: Als Adams Mutter Frieda einer Nachbarin für einen halben Zentner Kartoffeln das Fahrrad und den halb verhungerten Schäferhund vermacht, kehrt die Nachbarin kurze Zeit darauf ohne Hund und Fahrrad völlig aufgewühlt zurück. Sie war an der Friedensbrücke Sowjetarmisten in die Arme gelaufen, die das Fahrrad wollen und den knurrenden Hund erschießen. Die Frau wird vergewaltigt. Andere junge Frauen ziehen sich Kopftücher bis tief über die Stirn und malen sich mit abgebrannten Streichhölzern Falten ins Gesicht.
Der Hunger ist in den ersten Nachkriegsjahren das größte Thema: Im Verpflegungslager am Bahnhof Rehbrücke, wo Leute nach dem Einmarsch Lebensmittel heraustragen, kann auch seine Mutter einen Sack Zucker erbeuten. Täglich habe es in den ersten Nachkriegstagen Kartoffeln mit Rhabarber und Zucker gegeben. Melde aus dem Garten wird als Spinat verarbeitet. Für eine Reibselsuppe kocht seine Mutter Wasser mit Zucker auf und reibt rohe Kartoffeln hinein. Eine Nachbarin will ihre Hühner schonen und fängt Spatzen, zwölf braucht sie für das Sonntagsessen mit dem Sohn. Die Hühner werden irgendwann gestohlen.
Der Vater von Wolfgang Adam, Erich Adam, Kraftfahrer in den Arado-Werken, wird 1943 eingezogen, kehrt von der Schlacht von Stalingrad nie zurück – auch wenn der Mutter von einer Wahrsagerin aus dem Ort etwas anderes prophezeit wird. Claudia Scherle wird 1949 auf einem Laster zunächst in ein Lager nach Brandenburg (Havel), dann in die Sowjetunion abtransportiert. Wolfgang Adam wird Eisenbahner, studiert und türmt in den 80er-Jahren in den Westen. Er lebt mit seinem Lebensgefährten in der Kurstadt Pünderich an der Mosel.
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