Potsdam-Mittelmark: Die Ahnen segelten um Kap Hoorn
Nachruf auf ein Urgestein: Zum Tode des Geltower Bootsbauers Wilhelm Görrissen
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Nachruf auf ein Urgestein: Zum Tode des Geltower Bootsbauers Wilhelm Görrissen Von Balthasar D. Otto Ein Leben, das fast ein Jahrhundert umfasst, endete am 10. September 2003 nach 98 Jahren. Wilhelm Görrissen, der Sohn eines echten Kap-Horniers, eines jener legendären Weltumsegler, die das Kap Hoorn mehrfach bezwangen. Irgendwie muss in Wilhelm Görrissen dieses Abenteurerblut seines Vaters gesteckt haben. Auf jeden Fall begann sein Leben nicht in der Nähe der Nordsee, wo sich seine Vorfahren ihr Brot verdient hatten, sondern am 27. November 1905 in Wannsee. Er war als Schüler hoch begabt und legte Wert darauf, handwerklich zu arbeiten. Er besaß früh die Fähigkeit, sich mit einfachsten Werkzeugen zurechtzufinden. Seine Bootsbauerlehre absolvierte er erfolgreich in Potsdam und erwarb später seinen Meisterbrief. Sein Leben lang übte er mit großem Erfolg, aber auch mit Niederlagen, den Beruf des Bootsbauers aus. Ich habe versucht, einige Anekdoten aus diesem Leben zu schildern. Die erste Begegnung An einem warmen Sommerabend des Jahres 1953 setzte sich ein Pferdefuhrwerk mit meinem Vater und einer hinten angebundenen, von mir gebauten, einfachen Eichenholzjolle von Kuhfort aus in Bewegung Richtung Wildpark-West. Sie hatte vor 50 Jahren die Bootswerft Görrissen zum Ziel, die damals schon in der heutigen Form existierte. Es war meine erste Begegnung mit dem berühmten Bootsbaumeister, von dem mir bekannt war, dass er viele Jahre lang Obermeister der Bootsbauer und Schiffbauerinnung Brandenburgs war. Wilhelm hat mir oft von dieser Zeit als Obermeister erzählt und es klang immer eine Art Stolz mit, wenn er darüber sprach. Es waren fast 40 Betriebe zusammen zu halten und viele von ihnen verdanken ihre Existenz dem damaligen Zusammenhalt. Es gab Weniges, worauf er stolz war. Er konnte aber auch zornig sein, das musste man aushalten. Aber er hat sich letztlich immer als helfender und verträglicher Partner erwiesen. Mit seiner späteren Frau Gertrud hatte sich Wilhelm zunächst mal dort, wo jetzt die Werft ist, im Winkel Wildpark-West/ Geltow an der Bahn einen alten Eisenbahnwaggon gekauft, den sie auf ein provisorisches Fundament stellten, mit einem Spitzdach und Veranda versahen. Diese diente später als Modell für alle am Ufer gebauten Wohnhäuser. Darin lebten 4 Personen (bis einschließlich 1969 eingeschossig) unter primitivsten Bedingungen ohne Wasser und Strom. Am 15. Oktober 1926, 21-jährig und damit noch vor der damals gesetzlichen Volljährigkeit, gründete Wilhelm Görrissen seine Werft. Ein paar Urkunden mussten gefälscht werden, damit ihm der Amtsschimmel nicht auf die Schliche kam. Seine Frau arbeitete als Verkäuferin in einer Berliner Bäckerei, um etwas Geld dazu zu verdienen. Unter diesen Bedingungen begann die Arbeit des etwas verrückten Bootsbauer. Auch hier hatte Görrissen schon vorausschauend geplant: Wie man ja auch heute noch an den verblichenen gelben Buchstaben erkennt, hat er schon damals auf Tourismus gesetzt. Naherholung aus dem Berliner Raum. Das Gebäude hieß „Bootsheim Wochenend“ und wurde als Sommer- und Winterlager genutzt. Dazu hatte er in der großzügig dimensionierten Bootshalle seitliche Stuben mit Kojen eingebaut, in denen die Wassersportler das Wochenende verbringen konnten, um dann am Montag vom nahen Bahnhof Werder wieder nach Berlin zu fahren. Die verschenkten Yachten Wilhelm verstand es in der Nazizeit, sich lange vom Kriegsdienst freizuhalten, wurde aber dann doch gegen Kriegsende zur Marine einberufen. Von der französischen Atlantikküste erfolgte nach Aktivierung alter Verbindungen die Versetzung zur Stabskompanie des Marine-Oberkommandos in Berlin. Es folgte eine britische Schutzhaft bis Mitte 1945. Bei seiner Rückkehr an die Havel erwarteten ihn nicht nur seine Frau, sondern auch seine zwei Söhne und eine ohne größere Schäden überdauerte Werft. Dennoch kam Wilhelm jetzt in eine zerstörte Welt zurück. Als erstes erwartete ihn der Befehl des sowjetischen Kommandanten von Geltow – Wildpark West, alle vorhandenen Sportboote die in seinem Bereich lagen, an Land zu ziehen und als Reparationsforderungen nach Russland abzuliefern. Zwei Jahre lang hat Wilhelm gemeinsam mit dem Bootsbaumeister Beelitz daraufhin Boote verladen, fest gezurrt und zum nahen Bahnhof Werder geschafft. Daraus wurden zweieinhalb Güterzüge mit Sportbooten, die von Werder aus in Richtung Osten fuhren. Die ehemaligen Besitzer wurden sehr dürftig entschädigt. Für ein Boot bekam man zwei Brote, hieß es scherzhaft, wenn überhaupt jemand zu Scherzen aufgelegt war. Es war völlig klar, dass Wilhelm damit nicht nur die von ihm gebauten Yachten und Boote, sondern auch seine berufliche Existenz mit als Reparation verlud, denn wo keine Flotte ist, da ist auch keine Werft mehr. Es erfasste ihn ein gerechter Zorn. Wie schon während der Nazi-Zeit dachte er an eine Auswanderung nach Amerika. Er blieb. Der deutsch-deutsche Binnenhandel Einem, der wie Wilhelm mit Leib und Seele Bootsbauer war, der musste einfach wieder aus dem verbliebenen Holzbestand ein Boot bauen. Als erstes suchte er sich eine damalige Neukonstruktion, die vom Yachtkonstrukteur Martens 1936 zur Olympiade entworfene Olympiajolle (O-Jolle), ein rankes, schlankes, zehn Quadratmeter Segelfläche tragendes Schiff, das schnell aber auch leicht kenterbar war, aus. Anhand der Bauzeichnung legte er die O-Jolle auf. In der Zeit des Mangels brauchte es ein paar Jahre, bis das Boot fertig war. Mit diesem wunderschönen Schiff, nach allen Regeln der Bootsbaukunst angefertigt, fand Wilhelm in dem damals entstandenen deutsch-deutschen Außenhandel Ost-West in den 50er Jahren einen Partner, der das Boot auch kaufen wollte. Es wurde also auf eigenem Kiel nach Westberlin gebracht, aber er bekam kein Geld. Er wollte sein Eigentum wieder mitnehmen, auch das wurde ihm verwehrt. Erst über einen Rechtsanwalt kam er zu seinem Geld, der Außenhandel wurde danach personell zum größten Teil wegen Korruption ausgewechselt. Das Eissegelabenteuer Es war das Jahr 1952 und wir hatten in dieser Zeit strengen Frost. Bei einem dieser Winterbesuche stand vor seiner Werft auf dem Eis ein nagelneu von ihm gebauter Segelschlitten. Was für eine Sensation! Und zwar hatte er einen schmalen Rumpf gebaut, mit einem Querträger vorn und einer Läuferbohle hinten versehen, um daraus ein rasend schnelles, mehr als 100 km/h fahrendes Eissegelboot zu erhalten. Das Segel war das einer O-Jolle. Natürlich waren wir im Nu auf dem Boot und pfefferten wie die Verrückten über das Eis zwischen Wildpark West und Geltow. Wilhelm und ich segelten am späten Abend nach Werder rüber, und es gab an der engsten Stelle zwischen Werder und Wildpark-West in flotter Fahrt auf einmal ein gewaltiges Krachen. Die Läuferbohle des Schlittens hob sich etwa 2 Meter höher, die Steuerkufe vorne war zerbrochen und das Vorderteil hing im Wasser. Wilhelm aber blieb ruhig, krabbelte auf die höchste Stelle und zündete sich in aller Ruhe eine Pfeife an. Da hörten wir auch schon die Stimmen der Werderaner und Geltower Fischer, die zu einer Hilfsaktion übers Eis gestartet waren und uns bei ihrer Annäherung wahnsinnig ob unseres Leichtsinnes beschimpften. Sie hatten aber die Rechnung ohne Wilhelm gemacht, der schimpfte zurück, weil der Grund für diesen Unfall nicht bei ihm lag. Das Leck einer Gasleitung nach Wildpark-West hatte das Zufrieren an dieser Stelle verhindert. Der Eissegler wurde zur nahen Anlegestelle nach Werder gezogen und es versammelten sich so viele Schaulustige auf dem Eis, dass dieses unter der Last nachgab und die Neugier mit Kälte bestrafte. Wir kamen natürlich trockenen Fußes an Land. Ob mit dem Eissegler, einem restaurierten D-Rad oder einem Hausboot – Wilhelm verstand es, die Leute zu überraschen. Noch einmal erwies er sich in den 70er Jahren als Realisator von scheinbar Unmöglichem. Über Nacht stand auf dem Werftgelände ein wunderschöner Fachwerkbau mit sauber ausgemauertem Gefach auf einem hoch aufgeschütteten Sockelgeschoss inklusive Garage. Das alles in einer Zeit, wo man schon froh war, irgendwo ein Stück echtes Holz zu bekommen und oft schon mit Pressspanplatten zufrieden war. Des Rätsels Lösung: Wilhelm, der weit vorausschauend plante, besaß eine Baugenehmigung, von denen im ganzen Bezirk Potsdam nur drei ausgestellt wurden. Das Holz stammte von Resten, die beim damaligen Brückenbau abfielen. Zum Schluss Wilhelms letzte Lebensjahre waren wirr und für die Angehörigen auch schwere Jahre. Es gibt einen Roman von Jack London, „Der Seewolf“, der eben einen solchen alten bärenstarken Kapitän beschreibt, der nicht sterben kann, weil immer noch Blut und Lebenswillen das Leben anfacht. Aber irgendwann ist auch der letzte Lebensfunke erloschen, nicht ohne das er noch als Nachfolger seinen Sohn Jens bestimmt hat, der seit 1976 den Betrieb mit gleicher Hingabe führt. Ein Lebensweg hat sich vollendet. In zwei Jahren wird mit Glück und Geschick und Gottes Segen die Traditionswerft in ihr zweites Jahrhundert gehen. Möge ihr das Glück beschieden sein, das sie das erste Jahrhundert überstehen ließ. Der Historiker Balthasar D. Otto hat bereits viele wertvolle Beiträge zur Geschichte der Region publiziert und war mit Wilhelm Görrissen über Jahrzehnte eng befreundet.
Balthasar D. Otto
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