Potsdam-Mittelmark: Die Nominierung
Eine Geschichte zum Jahreswechsel, wie sie nie stattfinden würde. Sie ist frei erfunden. Würde sie stattfinden, würde es keiner erfahren.
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Eine Geschichte zum Jahreswechsel, wie sie nie stattfinden würde. Sie ist frei erfunden. Würde sie stattfinden, würde es keiner erfahren. Von Peter Könnicke Auf der Bühne krächzte das Mikrofon. „Eins, zwei Test. Eins, zwei, drei.“ Die Techniker reckten den Daumen nach oben. „Klingt jut!“ Der Saal unten war noch leer. Das plüschige Rot der Sitze schimmerte matt im Scheinwerferlicht. In wenigen Stunden würde auch der letzte Platz besetzt sein. Die letzte Veranstaltung in diesem Jahr, am Silvesterabend, würde den Kammerspielen noch einmal ein volles Haus bescheren. Dass die SPD ihre Kandidaten für die Landtagswahl in einem öffentlichen Musik-Casting finden wollte, galt ein absolutes Novum in der märkischen Geschichte. Doch seit dem sozialdemokratischen Stimmungstief suchen die Parteistrategen nach wirksamen Mitteln, um wieder an Popularität zu gewinnen. Dieses Aussingen der Kandidaten gehört dazu. Vier Bewerber sind es, die an diesem letzten Tag des Jahres auf die Bühne treten werden. Zunächst waren sie zu zweit: Steffen Reiche, Brandenburgs Bildungsminister, und Sozialminister Günter Baaske. Sie konnten sich in der Parteizentrale nicht entscheiden, wer von beiden ins Rennen geschickt werden soll. Immerhin ging es um den direkten Konkurrenten der CDU. Und die hatte mit Jörg Schönbohm ihr kampferprobtes Schlachtschiff aufgestellt. Nun hieß es, gegen Schönbohm Teltow und Kleinmachnow als eine der letzten roten Bastion zu verteidigen. Auf einem Krisentreffen im Spätherbst hatte sich die Parteispitze die Sache mit dem Vorsingen ausgedacht. Staatskanzleichef Rainer Speer melancholierte gerade in seine Mundharmonika „It“s all over now, Baby Blue“, als Matthias Platzeck aufsprang und schrie: „Das ist es!“ Es sprudelte nur so aus ihm heraus: „Wir machen es genauso wie in dieser Fernseh-Show äh Deutschland sucht den Superstar heißt die. Da werden die besten Sänger gesucht. Da gibt es “ne Jury und das Volk bestimmt, wer gewinnt.“ Platzeck schlug vor, die Bürgermeister von Teltow, Stahnsdorf und Kleinmachnow die Jury machen zu lassen. Das Publikum im Saal sollte entscheidend abstimmen. „Bei wem am lautesten geklatscht wird, der ist nominiert“, jubilierte Platzeck über seine Idee. Er sah erwartungsfroh in die Runde. „Is jut“, sagte Speer. „Toll“, klatschte Baaske. Steffen Reiche fand die Idee bescheuert. „Was soll ich denn da singen?“ Zudem sei er schon ewig lange nicht mehr in der Gegend gewesen, er wisse ja gar nicht, was die Leute dort hören wollen. Und dann diese irrsinnige Idee, die Jury mit den Bürgermeistern zu besetzen. Zwei waren wenigstens aus der eigenen Partei. Aber der Stahnsdorfer, dieser Enser, war doch das Aushängeschild der Christdemokraten. Hatte der die letzte Kommunalwahl nicht im Alleingang entschieden, grübelte Reiche. Wahrscheinlich, so sinnierte er, werde sich dieser Enser zu Beginn selbst ans Mikro stellen und ein Liedchen trällern, nur um zu zeigen, dass er“s auch drauf hat. Vor zwei Wochen gesellte sich völlig überraschend der dritte Bewerber hinzu. In der SPD-Zentrale in der Potsdamer Friedrich-Ebert-Straße fand sich unter den Protestbriefen und Austrittserklärungen, die seit Wochen täglich eintrafen, ein Schreiben mit einer bekannten Handschrift. „Liebe Freunde, ich hau“ hier in den Sack. Diese dusselige Maut geht mir auf die Nerven und ich hab“ auch keine Lust mehr, mir diesen ganzen Kram durchzulesen. Ich komme zurück zu Euch. Gebt mir einen Wahlkreis, dann bin ich glücklich. Euer Manfred!“ „Was sollen wir mit Stolpe machen?“, hatte Platzeck aufgeregt gefragt. „Lass ihn singen“, schlug Speer vor und zwinkerte dabei mit den Augen. Röslein rot Zwei Stunden vor Beginn des Gesangausscheides in den Kleinmachnower Kammerspielen schob Bernd Bültermann den Bühnenvorhang zur Seite und ging langsam ans Mikrofon. Der Kleinmachnower Sozialdemokrat war der vierte Interpret des Abends. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust, in den Landtag gewählt zu werden. Doch wenn schon jemand in Kleinmachnow gegen Schönbohm antreten sollte, dann ein Kleinmachnower. Immerhin war es hier mit eigenen Kräften gelungen, die CDU in Schach zu halten. Warum sollten sie sich dann einen Reiche, Baaske oder Stolpe vorsetzen lassen? „Wir können das selbst“, hatte man sich auf dem letzten Treffen der Orts-SPD bei „Schröders“, einer Kneipe mit deftiger Küche, zugerufen. Anschließend hatte Bültermann eine Runde Bier für alle spendiert und festgestellt: „Außerdem kann ich singen!“. Immerhin hatte er über 20 Jahre in einer Band gespielt. Es war fast 4 Uhr morgens gewesen, als die Genossen die Kneipe verließen und Bültermann hinterhersangen. „You will never walk alone!“ Nun stand Bültermann auf der Bühne und tippte mit dem Zeigefinger an das Mikro. Es war an. Vorsichtig hauchte Bültermann in den leeren Saal: „Eine Armee aus Gummibärchen, Panzer aus Marzipan.“ Er würde also Herbert Grönemeyers Hymne „Kinder an die Macht“ vortragen. Eine politische Botschaft. „Kindeeer an die Macht“ schmetterte Bültermann ins Mikro. Plötzlich klang vom Saal ein einsames Klatschen auf die Bühne. Bültermann hielt die Hand gegen das Licht der Scheinwerfer, um zu erkennen, wer da unten saß. „Hallooo“, rief er hinunter. „Sie haben keine schlechte Stimme“, bekam er zur Antwort. Es war Maximilian Tauscher, der CDU-Ortschef in Kleinmachnow. Vorsichtig näherte sich Tauscher der Bühne. „Was machen sie hier?“, fragte Bültermann. Tauscher hielt den Kopf etwas geneigt, sah Bültermann von der Seite an und sagte: „Ich hätte auch gern mal gesungen.“ Tauscher war bekannt für seine Sangesfreude. Es war bekannt, dass er bei Festen wie 100-jährigen Geburtstagen oder Goldenen Hochzeiten gern die Vertretung hochrangiger Funktionäre übernahm, um die Jubilare mit einer klassischen Arie zu erfreuen. Doch noch nie war es ihm gelungen, eine Sitzung des Ortsvereins mit einem Liedchen zu eröffnen oder gar auf einem Parteitag für das künstlerische Rahmenprogramm zu sorgen. Dass jetzt die SPD bei ihrer Kandidatennominierung künstlerische Kriterien anlegen wollte, imponierte Tauscher. „Wenn die CDU so etwas machen würde, hätte ich Haydn vorgetragen“, sagte Tauscher und begann zu singen: „Sah ein Knab ein Röslein steh“n “ Bültermann war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. War „Röslein rot“ eine Anspielung auf die SPD? Und war der Versuch, das Röslein zu brechen, etwa Tauschers Interpretation vom Wahlkampf, in dem die CDU die SPD pflücken wollte? Doch wenn dem so war, konnte er beruhigt sein. Immerhin wehrte sich die rote Rose. „Wir werden zurückstechen“, rief Bültermann Tauscher entgegen. Der verstummte augenblicklich. „Wie bitte?“ „Wir werden zurückstechen“, wiederholte Bültermann. Tauscher verschwand kopfschüttelnd im Scheinwerferlicht. Zur gleichen Zeit, als Tauscher „Röslein rot“ sang, klingelte es an der Wohnungstür des Stahnsdorfer Bürgermeisters Enser. Es war Steffen Reiche. „Störe ich?“, fragte er. Enser bat ihn herein. „Es ist mir etwas unangenehm“, sagte Reiche, „aber ich wollte sie fragen, ob sie nicht wissen, was ich heute Abend singen könnte. Sie wissen doch, was hier so ankommt.“ Enser war nicht überrascht. Er lässt sich gern fragen, egal von wem. Und weil es ihm im Grunde egal war, wer von den Sozi-Kandidaten das Rennen machen würde, weil der Auserwählte sowieso gegen Schönbohm verlieren würde, war es kein Schaden, Reiche ein paar Tipps zu geben. Es gebe ohnehin keinen besseren Berater für die SPD als ihn, dachte Enser. „Sie brauchen einen deutschen Schlager“, sagte Enser. „Etwas heimatliches, melodisches. Etwas zum Mitsingen.“ Reiche überlegte. Nach einer Weile rief er: „Ein Bett im Kornfeld!“ „Zu vulgär“, schüttelte Enser den Kopf. „Kleine Taschenlampe brenn““. „Kenn“ ich nicht.“ Es folgten Minuten der Stille. „Was passiert in der Region?“, fragte Enser mehr sich selbst. „Schleusenbrücke, Gewerbegebiet, Kreisverkehr, Wupperbrücke “ „Über sieben Brücken musst du gehn!“, rief Reiche plötzlich. „Das ist es“, schrie Enser. „Genau das ist es!“ Einer steigt aus Eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn kamen die ersten Gäste. Der Eintritt war frei, doch es konnte für einen guten Zweck gespendet werden. „Doch wohl nicht für die SPD, eh“, feixte Landrat Lothar Koch, als er einen 10-Euro-Schein in die Blechdose steckte. Ein Journalist fragte den Landrat, welchen Titel er denn vortragen würde, wenn er müsste. „Ick muss ja nich“, sagte Koch. „Aber angenommen wenn“, bohrte der Reporter nach. „Ick kenne nur Lieder von früher. Volkslieder.“ „Auch gut. Welches würden sie singen?“ Koch beugte sich zu dem Journalisten rüber und raunte ihm ins Ohr: „Das dürfen sie aber nicht schreiben “Auf der Reeperbahn nachts um halb eins““. Das Foyer der Kammerspiele war reichlich geschmückt. Rote Luftballon, rote Papierschlangen, Rotkäppchensekt zur Begrüßung. Direkt vor der Bühne waren drei Mikrofone für die Jury aufgebaut. Die beiden Bürgermeister aus Kleinmachnow und Teltow waren bereits da. Enser fehlte noch. Stattdessen kam Maximilian Tauscher. „Herr Enser lässt sich entschuldigen. Ich werde ihn vertreten.“ Hinter der Bühne ging es hektisch zu. Steffen Reiche hatte vor Aufregung rote Flecken im Gesicht. Manfred Stolpe nestelte nervös am Kragen seiner Jeansjacke. Darunter trug er ein weißes T-Shirt, dass er wild in eine Jeanshose gesteckt hatte. Er tippte aufgeregt auf seinem Handy herum, hielt es sich ans Ohr. „Mist“, fluchte er und steckte das Telefon in die Jackentasche zurück. „Ich wusste gar nicht, dass wir uns auch verkleiden sollen“, sagte Reiche und sah Stolpe von oben bis unten an. Er selbst sah aus wie immer: Jeans, Hemd und darüber ein graues Jacket. Stolpe grinste: „Kleider machen Leute.“ In diesem Moment kam Rainer Speer hinter die Bühne gestürzt. „Der Baaske kommt nicht.“ „Wieso nicht?“, riefen Reiche und Bültermann gleichzeitig. „Der tritt nun doch in Teltow-Fläming an“, sagte Speer. Pah, dachte Reiche. Dieser Feigling. Drückt sich hier um seinen Auftritt. Stolpe hingegen lächelte. Er sah seine Chancen steigen, wenn der junge Wilde mit seinem Sunnyboy-Lächeln nicht mitmachen würde. Der Baaske hätte bestimmt ein klasse Nummer hingelegt. War der nicht sogar mal Band-Manager, grübelte Stolpe. Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. „Wo bleibt ihr?“, flüsterte er ins Handy. „Macht hinne, es geht gleich los!“ „Nischt für unjut“ Es war kurz vor Mitternacht, als Steffen Reiche zwei Buletten und reichlich Kartoffelsalat vom Buffet auf seinen Teller schaufelte. Er hatte noch immer rote Flecken im Gesicht, doch seine Augen strahlten glücklich. Immer wieder klopfte ihm jemand auf die Schulter: „Gut gemacht!“. Seine Botschaft war für alle nicht zu überhören – und vor allem nicht zu übersehen gewesen. In leicht abgewandelter Form das alten Karat-Klassikers hatte Reiche dem Publikum zugesungen „Über diese Brücken musst du geh“n“ und Gerhard Enser hatte aus dem Background ergänzt, „13 schwere Jahre übersteh“n“. Hand in Hand hatten sich Reiche und Enser vor dem Publikum verneigt. Die CDU-Gäste werteten dies als die klare Koalitionsaussage, auf die sie seit Wochen warteten. Bernd Bültermann hat nicht Grönemeyer gesungen sondern Hildegard Knef. „Für mich soll''s rote Rosen regnen “, sang er ins Mikro während Maximilian Tauscher von der Jury aus Bültermann anerkennend zugenickte. Und als Bültermann die Passage sang „ die Welt sollte sich umgestalten “ klatschte Platzeck in der ersten Reihe jubelnd in die Hände. Eine geballte Ladung Raketen flog in den Silvesterhimmel, als Manfred Stolpe auf dem Parkplatz einen Mann mit langen Haaren die Hand drückte. „Gut, dass ihr es noch geschafft habt“, sagte Stolpe. „Nischt für unjut“, antwortete Dieter Birr, der Sänger von den Puhdys. Stolpe hatte die Kult-Band des Ostens für seinen Auftritt engagiert. Zusammen mit Dieter Birr hat Stolpe „Alt wie ein Baum möchte ich werden“ gesungen. Die Puhdys haben dann die Gelegenheit genutzt und noch sechs andere Stücke gespielt. Abgestimmt hat das Publikum nicht mehr. Denn als Stolpe zum Abschluss eine rockige Version des Brandenburg-Lieds vortrug, erklärte Bültermann hinter der Bühne, dass er definitiv nicht kandidieren werde. Und Steffen Reiche verkündete, dass er jetzt unbedingt gegen Günter Baaske singen will – in Teltow-Fläming.
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