Potsdam-Mittelmark: Die Prophezeiung
Die Zukunft der Region ist grün und gelb – eine Silvestergeschichte, wie sie nie stattfinden wird. Wenn doch, würden wir sie nie erfahren
Stand:
Der Zirkuswagen sah alles andere als einladend aus. Das Holz hatte lange keinen Anstrich gesehen, es war feucht und farblos. Durch das kleine Fenster schimmerte ein mattes Licht. Schmidt tänzelte unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er fror. In seiner Manteltasche nestelte er an dem Papier, das ihn hierher gebracht hatte. Ein Werbezettel, den er im Supermarkt am Packtisch entdeckte: „Adriana sagt Ihnen die Zukunft voraus. Kommen Sie am vorletzten Tag des Jahres und erfahren Sie, was Ihnen 2006 bringen wird!“ Eigentlich gab Schmidt nichts auf solchen Hokuspokus. Aber irgendwie spürte er schon seit Tagen, dass im nächsten Jahr etwas Besonderes passieren würde. Welcher Bürgermeister kann es sich leisten, böse überrascht zu werden und ohnmächtig zuzusehen, wie die Dinge ihren Lauf nehmen? Wie schnell gerät man unter Druck, schreit jemand nach Abwahl. Es kann nicht schaden, vorbereitet zu sein, dachte sich Schmidt. Nicht in diesem Job.
Er hatte schon ein paar Mal an die Tür des Zirkuswagens geklopft, aber keine Antwort erhalten. Er meinte, von drinnen Stimmen zu vernehmen. „Mal sehen, wer sich noch die Zukunft voraussagen lässt?“, fragte sich Schmidt neugierig, als die Tür aufging und eine Frau erschien. Sie trug einen blauen Umhang und einen langen Rock. Das schwarze lockige Haar fiel ihr weit über die Schultern und ihre grünen Augen leuchteten Schmidt entgegen. Ihm schauderte es leicht. Sie war vielleicht Mitte Vierzig, vielleicht etwas älter.
„Kommen Sie rein!“, sagte Adriana.
Er zögerte einen Moment, so dass sie ihn ermunterte: „Nur zu!“
Schmidt kletterte in den Wagen, der mit unzähligen Tüchern behangen war. Verschiedene Dufthölzer qualmten auf einer Kommode und ließen ihn für einen kurzen Moment schwindlig werden. Es war niemand weiter da. Adriana bat Schmidt, sich an einen Tisch zu setzen, der in der Mitte des Wagens stand.
„Sie wollen also wissen, was die Zukunft bringt?“, fragte sie.
„Nun ja, nicht alles“, sagte Schmidt, „ein kleiner Hinweis würde mir schon reichen.“
„Ein kleiner Hinweis also.“
Adriana zog ein rotes Tuch von einer Glaskugel und begann diese mit beiden Händen sanft zu streicheln. Schmidt schaute nervös von Adriana zu der Kugel und von der Kugel wieder zu Adriana. Die Frau murmelte unverständliche Laute, kniff die Augen zusammen, wich einen Schritt zurück, um sich im nächsten Augenblick wieder über die Kugel zu beugen. Diese begann sich zu verfärben, sie wurde glühend rot, dann schwarz, denn orange. Adriana bäumte sich ächzend vor und zurück. Schließlich schimmerte die Kugel gelblich grün. Dann verloschen die Farben.
„Oh ja“, machte Adriana.
„Was ist?“, fragte Schmidt. „Was hat das zu bedeuten?“
„Gelb und grün wird für Sie von maßgeblichem Einfluss sein.“
„Wie gelb und grün. Geht das nicht genauer?“
„Ich kann nur sagen was passieren wird. Wie das geschieht, weiß ich nicht“, sagte Adriana. „Wenn Sie jetzt bitte gehen würden!“
Adriana öffnete die Tür. Schmidt kletterte die drei Stufen hinab. Die frische Luft tat ihm gut.
„Viel Glück“, sagte Adriana und schloss die Tür.
„Ja, auf Wiedersehen“, sagte Schmidt. Er war bereits völlig in Gedanken versunken, als er den Zirkuswagen hinter sich ließ. „Gelb und grün“, grübelte er laut vor sich hin. „Was soll das bedeuten? Gelb und grün, die Alte spinnt doch.“ Er lief die Oderstraße hinunter in Richtung Altstadt. Hinter ihm lag bereits die alte Betonfabrik, vor ihm der Sportplatz. „Gelb und grün, ja natürlich“, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. „Brasilien!“ Schmidt begann schneller zu laufen, er spürte, wie ihm ganz heiß wurde. Er war sich sicher zu wissen, was Adrianas Zeichen zu bedeuten hatte. Nächstes Jahr zur Fußballweltmeisterschaft würde die brasilianische Fußballnationalmannschaft in Teltow ihr Quartier beziehen. Es gab keinen Zweifel, alles passte zusammen: Die Brasilianer würden in Berlin spielen, sie wollten nicht nach Potsdam, Teltow hatte ein hervorragendes Tagungshotel direkt am Wasser – nun ja, am Kanal, aber immerhin. Von hier bis ins Olympiastadion waren es höchstens 45 Minuten. Man würde Straßen neu bauen, ein neues Stadion, vielleicht bekämen sie ein Medienzentrum. Schmidt überlegte, wie viele Journalisten und Kamerateams nach Teltow kommen würden. 1000 bestimmt, vielleicht 2000. Womöglich bräuchte man ein zweites Hotel. „Bloß gut, dass die S-Bahn schon fährt“, dachte Schmidt. Er stellte sich vor, wie sich Ronaldinho ins Goldene Buch der Stadt einträgt. Man würde sich mit der Sanierung der Altstadt beeilen müssen, wer will den Weltfußballer des Jahres schon auf einer Baustelle empfangen. Sicher würde man vom Land zusätzliche Fördermittel bekommen, um rechtzeitig fertig zu werden. „Scheiß auf die regionale Wachstumskerne, wir werden Weltmeister“, jubelte Schmidt. „Habemus Brasilien.“
Als Schmidt am alten Stadthaus angelangt war, das schmucklos im faden Licht der Straßenlaterne stand, war er völlig außer Atem. Er war die letzten Meter gerannt, ohne es gemerkt zu haben. Er stützte sich auf die Knie und schaute zu der grauen Fassade rüber. „Gleich morgen“, sagte sich Schmidt, „werd ich eine große Brasilienfahne ans Stadthaus hängen.“
Am nächsten Morgen saß Schmidt mit seinen beiden Kollegen aus Stahnsdorf und Kleinmachnow in seinem Büro. Er hatte sie noch am Abend angerufen und sie beschworen zu kommen, auch wenn Silvester war. „Das ist der Hammer“, hatte er gesagt, „das ist unsere Chance, es allen zu zeigen.“ Den ganzen Ministern und Staatssekretären, dem Landrat, den Pressefritzen – allen, die ständig hetzen würden, die drei Orte würden nicht miteinander können, sie wären zu blöd, die einfachsten Dinge gemeinsam zu machen, die sie hinten runterfallen lassen, wenn es um Fördermittel geht und die die drei Orte nicht als gemeinsamen Wachstumskern anerkennen wollen.
„Meine Herren“, begrüßte Schmidt die beiden Kollegen, „ich mach es kurz: Nächstes Jahr zur Fußball-WM wird die Nationalmannschaft Brasiliens in Teltow Quartier beziehen. Das ist Ehre und Verpflichtung zugleich, der wir uns nur gemeinsam stellen können, ja müssen.“
„Woher wissen Sie denn das?“, fragte Kleinmachnows Bürgermeister Blasig.
„Von ganz oben“, antwortete Schmidt, „ich hab gestern Bescheid gekriegt“.
„Die ziehen wirklich in ein Teltower Hotel? Schließlich haben wir in Kleinmachnow auch eins. Direkt am Wasser.“
„Ganz sicher“, sagte Schmidt. „Teltow!“
„Aber trainieren werden die bei uns, auf dem Platz hinter dem Sportforum“, sagte Blasig.
„Der ist doch total runtergekommen“, warf Enser, der Stahnsdorfer Bürgermeister, ein. „Unser Zille-Sportplatz bietet sich da eher an.“
„Der ist viel zu weit weg“, widersprach Blasig. „Wenn die bei uns trainieren, können wir mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Unser Sportplatz wird von der FIFA saniert. Man kann vom Hotel in Teltow einen Wanderweg am Kanal anlegen und in Höhe des Sportplatzes eine Brücke über den Kanal bauen. Dann kann sich die Celecao direkt vom Hotel zum Trainingsplatz warm laufen und für die Nachhaltigkeit haben wir auch gleich was getan.“
Blasig freute sich, dass ihm das mit der „Celecao“ eingefallen war. Zudem würde er gleich im neuen Jahr bei der Arbeitsgruppe „Wanderwege“ der Lokalen Agenda anrufen und mitteilen, dass er da einen Vorschlag für ein neues Projekt habe. Damit würde er die Ökos ruhig stellen, die ständig an ihm rumnörgeln, er würde sie nicht unterstützen.
Ungefragt dozierte Blasig: „Celecao ist portugiesisch und bedeutet Auswahl.“
„Wir brauchen ein regionales Vorbereitungskomitee“, warf Stahnsdorfs Bürgermeister Enser ein.
„Genau“, rief Schmidt.
„Ja“, meinte auch Blasig, „Wir sollten auf jeden Fall die Lokale Agenda einbeziehen.“
Schmidt erwähnte die Heimatvereine und den Förderverein „Teltower Rübchen“.
„Wieso Rübchen?“, fragte Enser und runzelte die Stirn. „So''n Quatsch!“
„Rübchen sind gesund“, belehrte Schmidt. „Da sind viele Vitamine drin. Stellen Sie sich mal vor, Brasilien wird Weltmeister und Ronaldinho wird gefragt, wie es geschafft haben, Weltmeister zu werden und Ronaldinho sagt, das habe an den Teltower Rübchen gelegen, die er zum Mittag gegessen hat. Die Nachfrage nach Teltower Rübchen wird weltweit steigen. Wir werden exportieren. Wir werden größere Anbauflächen brauchen, es werden vielmehr Rübchen wachsen als bisher.“
„Und so werden wir doch noch Wachstumskern“, schloss Blasig den Vortrag seines Kollegen ab.
„Glaub ich nicht.“ Enser war immer noch skeptisch.
„Doch“, beharrte Schmidt trotzig. „Außerdem sind Rübchen gut für die Potenz. Das hab ich zumindest gelesen.“
Blasig warf ein, dass die Brasilianer keine Potenzmittel brauchen würden, weil sie den Karneval und schöne Frauen hätten, aber die Idee mit den Rübchen sei trotzdem gut.
„Okay“, sagte Enser, „Kleinmachnow kriegt ''nen neuen Sportplatz und ''nen Wanderweg, Teltow vermarktet seine Rübchen. Und was kriegt Stahnsdorf?“
„Wenn nicht nur noch ein halbes Jahr Zeit wäre, könnten wir die Verlängerung der S-Bahn fordern“, überlegte Schmidt.
„Stammbahn ist besser“, widersprach Blasig.
„Nee, nee mein Lieber“, protestierte Enser, „wenn, dann S-Bahn.“
Schmidt hob die Hände: „Also mir ist das egal.“
„Außerdem ist das Quatsch: In einem halben Jahr baut niemand eine Bahnstrecke“, resignierte Enser. „Aber wenn wir als Region gemeinsam profitieren wollen, muss Stahnsdorf auch was abbekommen.“
„Aber wir profitieren doch alle von den Brasilianern“, bemerkte Schmidt vorsichtig.
„Pah“, machte Enser, „wo denn. Das ist unfair.“
Blasig wagte einen Kompromiss: „Wir könnten den Wanderweg ja bis Stahnsdorf bauen.“
„Ich will keinen Wanderweg“, rief Enser, „ich will lieber einen Kreisverkehr.“
Es war kurz nach Mittag des 31. Dezember, als in der Potsdamer Staatskanzlei ein Fax aus dem Teltower Bürgermeisterbüro eintraf: „Sehr geehrte Damen und Herren der Landesregierung, sehr geehrter Herr Ministerpräsident. Lieber Matthias! Wir freuen uns, dass im kommenden Jahr die brasilianische Nationalmannschaft während der Fußballmeisterschaft ihr Quartier in unserer Region bezieht. Die Rolle der Gastgeber verlangt von uns allen gemeinsame Anstrengungen. Von unserer Seite wird der regionale Gewerbeverein die Vorbereitung eines deutsch-brasilianischen Volksfestes übernehmen. Nach einer ersten Rücksprache mit dem Verein könnte es ein buntes Bühnenprogramm mit rhetorischen und musikalischen Darbietungen geben. Die Tanzschule Kleinmachnow würde lateinamerikanische Tänze aufführen und der RSV Eintracht zum Torwandschießen einladen. Weitere Highlights sind geplant. Außerdem soll der brasilianische Fußballspieler Marcelinho von Hertha BSC angefragt werden, auf der Grünen Woche Teltower Rübchen zu servieren. (Teltow und Stahnsdorf sind Partnergemeinden von Hertha) Aus regionaler Sicht sind einige Investitionen des Landes erforderlich, um notwendige Infrastrukturmaßnahmen wie die Anlage von Wanderwegen zu realisieren. Da mit intensivem motorisiertem Fanaufkommen zu rechnen ist, sollte der Stahnsdorfer Hof durch einen Kreisverkehr ertüchtigt werden. Für weitere Detailabsprachen schlagen wir ein baldiges Gespräch nach dem Jahreswechsel vor. Gezeichnet Blasig, Enser und Schmidt.“
Kurz vor Mitternacht stieg Schmidt auf den Balkon des alten Teltower Stadthauses und befestigte an dem rostigen Geländer eine riesige Fahne in den brasilianischen Nationalfarben. Die Luft war kalt und klar und die Fahne leuchtete hinüber bis zur anderen Straßenseite. Schmidt beschloss, den Jahreswechsel allein in seinem Büro zu verbringen. Es würde Abschied nehmen von den trauten Wänden, denn im nächsten Jahr würde er in ein neues Büro in der Altstadt ziehen. Er setzte sich in den schwarzen Sessel an seinem Schreibtisch und zog ein paar Seiten aus dem Faxgerät. Neujahrsgrüße aus der französischen Partnerstadt, Einladungen, die Beschwerde eines Anwohners über einen vermeintlich illegal abgestellten Zirkuswagen. Auch Stahnsdorfs Bürgermeister Enser hatte noch ein Fax geschickt, besser gesagt eine Kopie und der Anmerkung: „Herrn Schmidt zur Kenntnis“. Der ursprüngliche Absender war unverkennbar die brasilianische Botschaft. Auf dem Papier stand nur ein eilig dahin geschriebener Satz: „Eu nao conheco Teltow! - Ich kenne Teltow überhaupt nicht!“
„Das wird sich bald ändern“, dachte sich Schmidt. Er durchsah die restlichen Faxe, ohne den Inhalt zu registrieren. Er las nicht die Mitteilung eines Autokonzerns. Dieser freue sich, Teltow im nächsten Jahr kostenlos zwei erdgasbetriebene Dienstfahrzeuge bereitzustellen. Ein gelbes und ein grünes.
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