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Potsdam-Mittelmark: Die zweite Chance

Julia Gamez Martin aus Teltow träumt nicht nur davon, in Musicals zu singen

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Teltow - Julia Gamez Martin steht vor der Tür, heult und weiß, sie hat alles falsch gemacht. Die Stimme zitterte, sie traf die Töne nicht und der Text, den sie hoch- und runtergepauckt hatte, war plötzlich weg. Julia Martin Gamez ist 13 Jahre alt, da singt sie zum ersten Mal vor. „Les Miserable“ ist als Musical an ihrer Schule geplant und sie will mitsingen. Ein kleiner Traum nur, doch ihre kleine Welt füllt er ganz aus.

Als der 13-Jährigen auf dem trostlosen Schulhausflur gerade ihre kleine Welt zusammenbricht und sie vor lauter Tränen kaum aus den Augen schauen kann, kommt eine Lehrerin zu ihr. Sie geht mit Julia zurück in den Klassenraum. „Ich bekam eine zweite Chance, sang noch einmal das Lied und wurde für das Musical an unserer Schule genommen.“

Dann steht Julia Martin Gamez wieder vor einer Tür – vor vier Wochen beim Bundeswettbewerb Gesang war das – und weiß, sie hat wieder einiges falsch gemacht. Sie hat gezittert, fürchterlich gezittert, denn den ganzen Tag hatte sie Zeit, an dieses Vorsingen zu denken. „19 Uhr, das ist kein guter Termin“, sagt sie. Da bleibt zu viel Zeit, um sich zu fragen, worauf die Jury wohl achten wird. Zu viel Zeit, um den Text wieder und wieder zu wiederholen und um schwierige Passagen noch einmal und noch einmal und noch einmal zu üben. Genug Zeit also, um sich selbst an den Rand einer Panik zu denken.

Beim Bundeswettbewerb Gesang, einem der renommiertesten Wettbewerbe dieser Art in Europa, gibt es keine zweite Chance. Knallhart sind die Kriterien für die Auswahl der besten Nachwuchssänger. Julia Gamez Martin war eine von 207, die sich diesem Wettstreit stellten. Bis ins Halbfinale hat sie es geschafft. Im Konzertsaal der Berliner Universität der Künste stand sie und sang die Irrenhausballade aus dem Musical Elizabeth, „Mein Herr“ aus Cabarett und „Gold von den Sternen“ aus dem Musical Mozart. Es hat nicht gereicht.

Geheult hat sie nicht, obwohl ihr danach zumute war. Sie hat schnell erkannt, dass sie hier gegen verdammt gute Sängerinnen antrat. „Die meisten von denen sind schon über 20 und studieren Gesang.“ Julia Gamez Martin ist 19, in Berlin geboren. Am Beethoven-Gymnasium in Berlin bereitet sie sich gerade auf das Abitur vor. Mehr so eine Pflichtübung. Sie will singen. Musicals auf großer Bühne. Am liebsten die Elisabeth.

Jetzt sitzt Julia Gamez Martin im Haus ihrer Eltern in Teltow am Küchentisch und rührt in ihrem Kaffee. Ihr Blick ist offen, ein wenig neugierig. Selbst persönlichen Fragen weicht sie nicht aus. Neben ihr liegt ein grüner Hefter mit dem ganzen Zeug aus dem Deutschkurs. Mit ihm wird sie sich noch beschäftigen müssen. Die ersten Prüfungen stehen an. Doch jetzt darf ein wenig geträumt werden, so wie in diesen Musicals, wo am Ende immer das HappyEnd kommt.

Mit solchen Geschichten braucht der jungen Sängerin niemand kommen. Ja, sie liebt Musicals. Sie will Gesang mit Schwerpunkt Musical studieren und sich dann dem harten Bühnenalltag stellen. Aber wenn sie einmal die Elisabeth in dem gleichnamigen Musical singen will, dass „die wahre Geschichte von Sissi, der Kaiserin von Österreich“ zeigen soll, dann helfen ihr keine Träumereien weiter. Julia Gamez Martin will das schaffen und bestimmt gibt es Momente, in denen sie sich auf die Bühne träumt. Doch sie weiß sehr gut, dass sie dahin nur mit einem festen Willen und harter Arbeit kommt.

Im Alter von sieben Jahren schickt ihre Mutter sie zum Kinderchor. Jeden Tag wenn sie ihre Tochter von der Schule abholt, singt die ihr lauthals die neuen Lieder im Auto vor. „Irgendwann konnte sie das nicht mehr ertragen.“ Nach dem Kinderchor kommt sie in den Jugendchor und dann in den Berliner Konzertchor. Julia nimmt klassischen Gesangsunterricht bei einer Lehrerin, zu der sie noch heute jede Woche geht. Und mit zehn Jahren erlebt sie ihr erstes Musical: Shakespeare & Rock“n“Roll. Musik, Tanz, Gesang, Show, dieser ganze große Zauber. Sie ist hin und weg.

„Ich hab meiner Mutter erzählt, dass ich genau das machen will.“ Die winkt ab, hält das für ein kindliches Hirngespinst. Mit den Jahren setzt sich ihr Dickkopf durch. „Heute ist meine Mutter aufgeregter als ich vor einem Auftritt.“

Julia Gamez Martin steht schon seit Jahren auf der Bühne. Sie hat in verschiedenen Musicals an ihrer Schule gesungen, sich in die fast täglichen, manchmal bis 22 Uhr gehenden Proben gestürzt. Sie ist mit Freunden durch Bars gezogen und hat bei Karaoke-Shows mitgemacht. Den „Spaßfaktor“ nennt sie das. Mit dem Pianisten Alexander Wunderlich und ihrer Freundin Sarah Rüdiger tritt sie regelmäßig als Candlelight Trio auf und singt neben Popsongs – wie sollte es auch anders sein – Lieder aus verschiedenen Musicals.

Es kommt nicht selten vor, dass nach so einem Auftritt jemand zu ihr kommt und sagt, dass sie wirklich toll singen kann. Julia Gamez Martin freut sich darüber, denn darum geht es: Den Zuhörer glücklich machen. Doch viel wichtiger ist ihr das Urteil ihrer Freundin Sarah oder von Kollegen, die ihr dann sagen, was sie noch besser machen soll. Und für den Fall, dass diese Kritik mal ausbleiben sollte und das Lob überwiegt, hat sie einen Zettel mit einem Zitat des Malers Edvard Munch an ihrem Spiegel: „Für einen Künstler ist es vor allem gefährlich, gelobt zu werden.“

Neben den Prüfungsvorbereitungen schreibt Julia Gamez Martin gerade Bewerbungen für verschiedene Hochschulen. Es wird nicht einfach, einen der begehrten Studienplätze zu bekommen. Doch eine der besten Voraussetzungen hat sie jetzt schon erfüllt. Sie will das und nur das. Und sie weiß, dass ihre Entscheidung für diesen Weg auch Konsequenzen für ihr Privatleben haben wird. „Es wird sehr schwierig in diesem Beruf, eine Familie zu haben.“ Sie hat sich schon jetzt für die Musik entschieden. Aber wie sie das erzählt, klingt das nicht nach knallharter Karriere. Es klingt so, als ob sie gar nicht anders kann.

Ein Zettel am Schwarzen Brett ihrer Schule hat sie auf den Bundeswettbewerb Gesang gebracht. „Ich hab gedacht, probier es einfach und mich beworben.“ Das sie nicht ins Finale kam, hat sie nur kurz erschüttert. Nach ihrem Auftritt hat sich jeder aus der Jury für sie Zeit genommen und gesagt, was sie noch verbessern muss. Und sie haben ihre lyrische Stimme gelobt, ihr gesagt, dass sie gut ist und das Zeug zur Sängerin hat. „Das waren keine Floskeln, das war ernst gemeint.“ So wie die Empfehlung, dass sie sich wieder bewerben soll. In zwei oder drei Jahren. Julia Gamez Martin wird das machen.

Dann wird sie wieder vor der Jury stehen und ihre Lieder singen. Sie wird mit Sicherheit wieder aufgeregt sein, zittern und wahrscheinlich auch den einen oder anderen Fehler machen. Aber Julia Gamez Martin wird wissen, dass dies ihre zweite Chance ist.

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