KulTOUR: Drei Systemen treu gedient
Dok-Filmer Karl Gass zeigt zum 90. in Kleinmachnow „Nationalität Deutsch“
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Kleinmachnow - Stehende Ovationen fast des gesamten Bürgersaales für Karl Gass am Freitagabend, nachdem der angekündigte Film „Nationalität Deutsch“ vorüber war. Just zwei Wochen nach seinem Neunzigsten lud der Kulturverein Kleinmachnow zu dieser Ehrung, und die da kamen, gaben sich „Hallöchen“, küssten und umarmten sich, Kampfgefährten, Freunde, Mitstreiter fast durchweg gehobenen Alters. Bürgermeister Wolfgang Blasig (SPD) vermisste denn auch jene, denen man das Wissen und Erfahrung des altgedienten Dokumentarfilmers hätte weitergeben können, aber die Jugend hatte sich genauso rar gemacht wie die „Neu-Kleinmachnower“.
Ein Treffen „ganz unter sich“? So schien es, aber das Kapitel Gass ist ja nicht zu Ende: Dreht er nach „Nationalität Deutsch“ (1989/90) nicht mehr, weil er als gestandener Kommunist „mit den rechtsradikalen Idioten“ von heute nichts zu tun haben will, so streitet er doch fortan mit der Feder für die gleiche Sache: Die Verbesserung der Welt mit künstlerischen Mitteln. Da er seiner Frau sogar den Hundertsten versprach, darf man noch einiges von ihm erwarten. Laudator Dieter Wiedemann, Chef der HFF, hofft das auch, für ihn und seine Schüler ist Gass Dokfilm-Pionier und Klassiker in einem.
Der Jubilar gehörte zu einer kleinen Schar von westdeutschen Intellektuellen, die in der DDR das bessere Deutschland sahen. 1948 siedelte der Mannheimer vom Kölner Rundfunk nach Ostberlin über, arbeitete Anfang der Fünfziger für das DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme, mit maßgeblichem Anteil am guten alten „Augenzeugen“. Wie sehr ihn Andrew Thorndike („Das russische Wunder“, 1963) geformt hatte, zeigt auch sein letzter Film: Von Andreas Bergmann an der Kamera mit ruhigen Schwarzweiß-Bildern fotografiert, schildert er das Leben des Dorfschullehrers Albert Linnecke (1889-1954) im altmärkischen Flecken Rindtorf, zwischen Stendal und Tangermünde gelegen, mit sicherer, aber provozierender Distanz.
Dieser wackere Mann, im Nebenberuf auch Kantor, dokumentierte in seiner „Schul-Chronik“ deutschen Alltag von 1919 bis 1953 mit aller Genauigkeit: wie viele Schüler kamen und gingen, wohin die Schulwanderungen führten, wann Adolf Hitler in Stendal sprach, Pflichtveranstaltung, klar. Sollte sich heutzutage irgendwer nicht nur für die Ideologien der Zeit, sondern auch für die tatsächlich „gelebte Geschichte“ interessieren, er mag Gass fragen. Linnecke konnte mit Treu und Redlichkeit sowohl die Weimarer Zeit wie auch das 3. Reich, sogar die DDR ohne erkennbare Probleme durchleben. Freilich hatte er seinen Berichten nachträglich Kommentare wie „in Wirklichkeit Angriffskrieg“ oder hinter „Arbeitsunwillige“ „KZ“ gesetzt, aber er lehrte seine Schüler (wie heute) nur den aktuellen Wissensstand dreier Fahnen, fuhr mit ihnen zur Besichtigung eines Hochseedampfers nach Hamburg oder zeigte ihnen die Hünen-Gräber gleich nebenan. Ein ganz normales Dorfleben, zu dem auch gehörte, dass hier alle Männer beim „Stahlhelm“ waren, später Teil der SA.
Heinrich Mann hätte aus diesem hochgeachteten Schulmeister einen besonders üblen „Untertan“ gemacht, Gass aber ist klüger: Er lässt mit Ruhe und Verständnis die Chronik selbst erzählen, kommentiert sie nur sparsam, aber nie mit dem Holzhammer. Dörfler von 1989 kommen aus dem Off zu Wort: 3. Reich? „Der Fritz hat hier nur die Kasse geführt, bei uns war alles ruhig.“
Nach 1945 tritt Linnecke zuerst in die SPD ein, dann in die SED, wo man ihm zwar eine Unbedenklichkeitserklärung ausstellt, diesmal mit einem Fremdkommentar: „wegen seines Alters nicht mehr entwicklungsfähig“. Jetzt lehrte er Marxismus, studiert mit den Kindern Lobeshymnen auf Stalin ein. Arbeitstitel des Films, den nach 1990 bald niemand mehr sehen wollte: „Korrekturen“.
Man wünschte, dieser Streifen könnte dem heutigen Schulunterricht in Sachen „3. Reich“ dienlich sein, denn Karl Gass zeigt mit altem Archivmaterial, wie sich Weltpolitik im Leben eines Mini-Dorfes spiegelt, deutschen Alltag, wie man ihn heute nicht mehr erzählt. Schwierigkeiten mit den Seinen bekam er nur einmal, weil er den Kommunisten vorwarf, mit Hitler (1938 wählten ihn 99 Prozent der Deutschen, also „Kollektivschuld“) den Krieg nicht verhindert zu haben, Problem in der neuen Ordnung, als ihm ein SFB-Intendant 1990 sagte: Was die Zensur in der DDR aus ihren Filmen herausschnitt, das machen wir hier selbst!
Noch heute, jenseits aller Kritik, hält er die DDR-Ordnung für besser, die jetzige nennt er „katastrophal“. Im Gegensatz zu vielen anderen konnte Karl Gass also aufhören. Weiter so, und Glückwunsch aus der Ferne!
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