
© Thomas Lähns
Potsdam-Mittelmark: Eine Insel im braunen Meer
Garry Behrend besuchte gestern das frühere Landschulheim Caputh. Von hier aus floh er 1936 in die USA
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Schwielowsee - Garry Behrend hat als Zwölfjähriger wahre Größe bewiesen: Damals rettete er einen Caputher Jungen vor dem Ertrinken im See. „Ich habe nur den Haarschopf gesehen und bemerkt, dass da jemand ist – da hab ich ihn herausgezogen“, berichtet er heute. Er selbst schwebte zu dieser Zeit schon in großer Gefahr. Denn es war das Jahr 1936 – und Garry Behrend Jude. Er verbrachte nur einen Sommer in Caputh: Sein Vater war ein Jahr zuvor in die USA geflohen und traf die nötigen Vorbereitungen, um kurz darauf auch den Rest der Familie nachzuholen. Garry Behrend und seine sieben Geschwister warteten im jüdischen Landschulheim am Steineberg darauf, dass auch ihr Schiff bald ablegen wird.
Seit der Wende ist der heute 87-jährige Behrend immer wieder mal nach Deutschland zurückgekehrt. Geboren wurde er in Nieder-Neuendorf (heute Landkreis Oberhavel). Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt ihn als Knaben neben seinen Geschwistern am Havel-Ufer. Gestern war er mit seiner Frau, der gemeinsamen Tochter und deren Familie erneut einer Einladung nach Caputh gefolgt – zurück zu den Erinnerungen an eine zwiespältige Zeit. Denn einerseits war da das Landschulheim der Reform-Pädagogin Gertrud Feiertag, der „Tante Trude“, die mit musischer und künstlerischer Empfindsamkeit unterrichtete – statt mit dem Rohrstock, wie die meisten Lehrer damals. Doch die vermeintlich sichere Insel drohte jederzeit, im braunen Meer unterzugehen, und das wussten auch die Kinder.
Das 1931 gegründete und privatfinanzierte Landschulheim bot damals nicht nur alternative Erziehungsansätze, sondern wurde während der Nazizeit zur Schleuse für jüdische Kinder wie Garry Behrend. Einen Großteil der Geschichte des Hauses und seiner früheren Bewohner hat die Michendorferin Andrea Alms aufgearbeitet, die lange Zeit hier als Erzieherin gearbeitet hat. In der DDR war das Gebäude ein herkömmliches Kinderheim, heute heißt es Jugendhilfezentrum und trägt den Namen seiner Gründerin. Alms hält noch heute Kontakt zu 27 ehemaligen Bewohnern, die bis zur Reichspogromnacht 1938 bei Gertrud Feiertag Zuflucht fanden. „Sie konnte das Haus unwahrscheinlich lange behaupten“, weiß Andrea Alms. Nachdem den örtlichen Händlern verboten wurde, ihre Waren hier her zu liefern, wurde das Brot selbst gebacken, Gemüse im Garten angebaut. Erst als am Morgen des 10. November 1938 die Deutschen mit Äxten kamen, war endgültig Schluss. Sie zerstörten die Einrichtung und vertrieben die Kinder, die während der überstürzten Flucht von „arischen“ Altersgenossen mit Steinen beworfen wurden. Gertrud Feiertag brachte viele von ihnen noch rechtzeitig nach Berlin und dann weiter ins Ausland, bevor sie 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ein Jahr später ermordet wurde.
Zu ihren Schützlingen gehörte auch Peter Ettlinger. Der heute 86-Jährige kam 1931 erstmals nach Caputh und floh vier Jahre später mit seiner Mutter nach Palästina. Auch er gehörte gestern zu den Besuchern. Ettlinger hatte seinerzeit einen ganz besonderen Caputher kennengelernt: Albert Einstein, der nur zwei Häuser weiter sein Sommerhaus hatte, nahm sich des Öfteren Zeit für ihn. So erklärte der Nobelpreisträger ihm zum Beispiel, warum die Sterne nicht vom Himmel fallen. Dass die Sonne über Deutschland am Untergehen war, muss er zu diesem Zeitpunkt bereits selbst gesehen haben: Einstein floh Ende 1932. „Hier muss irgendwo noch der Tisch stehen, an dem wir beide gesessen haben“, erklärte Peter Ettlinger gestern beim anschließenden Rundgang durch das Einstein-Haus.
Peter Ettlinger besuchte später eine Hotelfachschule in Jerusalem, lernte dort den Gastronomen Rolf Eden kennen. 1962 ist er nach Deutschland zurückgekehrt und machte sich mit dessen Hilfe einen Namen in der Berliner Gastronomie-Branche. Garry Behrend blieb in den USA. In New York gründete er eine Firma, die Tonbänder produzierte, und baute sich damit eine Existenz auf. Die beiden Männer sind sich gestern zwar das erste Mal begegnet – sie waren aber sofort Vertraute. „Wir müssen uns unbedingt noch einmal treffen“, beschlossen sie. Um über die Kinderjahre in Caputh zu reden, und über die Gründe von deren jähem Ende.
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