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Kino in Wilhelmshorst: Filmriss beim Erben

In Wilhelmshorst zeigte Jakob Damms hochentzündliche Nitrofilme aus den 20er-Jahren. Die Feuerwehr musste extra mit einem Stickstoff-Vorrat anrücken.

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Michendorf- Wer Kino wie vor hundert Jahren erleben will, muss umdenken können: Einige Gäste haben am Freitagabend die Filme im Kinovarieté in Wilhelmshorst verkehrt herum gesehen. „Damals war das Kino an der Leinwand zweigeteilt und hinter der Leinwand waren die billigen Plätze“, sagt Jakob Damms, Besitzer des „Letzten Kino“ Wilhelmshorst.

Der Projektor musste für die Vorführung im Freien stehen, trotz zeitweisen Nieselregens. Die Sicherheit ging vor. Das lag nicht an dem 99 Jahre alten, handbetriebenen Filmprojektor, sondern an der Brisanz der Filme. „Eine Wilhelmshorsterin hat mir beim Jahrmarktskino zu Weihnachten erzählt, sie habe alte Filme gefunden“, erinnert sich Damms. Sechs Filmrollen habe die Finderin in ihrem Büro gelagert, ohne zu wissen, wie brandgefährlich sie waren.

Denn das Material besteht aus hoch brennbarer Nitrozellulose. „Ab 40 Grad kann der Film Feuer fangen, deswegen ist auch die Feuerwehr bei der Vorführung dabei“, sagt Damms. Zu löschen sei ein Brand weder mit Wasser noch mit Schaum, da der einmal brennende Film seinen eigenen Sauerstoff produziert. Daher habe sich die Freiwillige Feuerwehr Wilhelmshorst extra Stickstoff besorgen müssen, um ein unfreiwilliges Inferno zu verhindern.

Damms kennt sich mit Filmen aller Art aus, sein Handwerk hat er einst in einem Sonderkurs im Potsdamer Filmmuseum gelernt. Er vermutet, dass die 35-Millimeter-Filme aus den 1920er-Jahren stammen, „der Hoch-Zeit des damaligen Home-Entertainments“. Fünf Zelluloidstreifen konnte Damms retten. „Der Film wurde sehr gut gelagert.“

Genau wie die Kinogäste hatte Damms erst während der Vorführung Gewissheit, was auf dem Nitrofilm abgelichtet wurde. Typisch für die damalige Zeit seien dokumentarische Kurzfilme oder Slapstick-Nummern gewesen, fügte der Filmspezialist und Kino-Narr hinzu.

Die Spannung war also groß, als Damms den Projektor von 1916 mit der Handkurbel einer Singer-Nähmaschine ankurbelte: Die Feuerwehr draußen beim alkoholfreien Bier und den Stickstoff-Flaschen, das Kino-Publikum drinnen im geheizten und hübsch drapierten Raum. Voll war’s, und erzgemütlich. Auch wenn die Filme zu gebrauchen seien, musste laut Damms mit Filmrissen ob des brüchigen Materials gerechnet werden.

Und so kam’s: Während das Publikum voller Spannung die Hetzfahrt des vermeintlichen Erben in spe zur Testamentseröffnung verfolgt hatte, war finito. Immerhin bekam man mit, dass dieser Johnny ein großstädtischer Faulenzer im Bratenrock war, der noch nie gearbeitet hatte. Er durfte das Erbe nur antreten, wenn er ein tüchtiger Farmer wird. Da der Typ weder auf das eine noch auf das andere verzichten wollte, verlegte er seine Farm nebst Esel, Kuh und Hühnern auf das Dach eines New Yorker Hochhauses. Da er auch noch die Tochter des Toten zu heiraten hatte, wird es wohl ein Happy End knapp unter den Wolken gegeben haben.

Im nächsten Film dann ein Schönheitswettbewerb in Santa Cruz, wobei ausgerechnet ein Botanik-Professor die schönste Blüte recht genüsslich kürte. Dutzende Damen auf dem Laufsteg, ein ziemlich hübsches und vor allem lächelndes Rudel, wie das damals so war.

Es folgte ein Schmankerl für Nachtschwärmer, aus den 20er-Jahren von Paris: Ein leicht besoffener Feuerwehrmann hat es drauf, alle Frauen in der Straßen- und U- Bahn, und überhaupt, nackt zu sehen, da nahm der Film kein Feigenblatt zu Hilfe.

Kürzere Streifen folgten zuletzt, ein Büffeleintrieb mit fünfhundert Tieren, der Brand auf einer kubanischen Zuckerrohrplantage, einst hochberühmte Tennisspieler in Aktion. Wobei mancher Film in den damaligen Schwarzweißzeiten bereits koloriert wurde. Auch Zeitlupe und Rückwärts-Szenen gab es schon.

Die Filmrollen stammen ursprünglich aus dem Keller der Babelsberger Bäckerei Günther in der Garnstraße. Durch einen Umzug kamen sie nach Wilhelmshorst, wo Thomas und Claudia Günther sie wiederentdeckten. „Es kommen öfter mal solche Filmrollen herein“, verriet Damms, „meist in Super 8.“ Da gibt es immer etwas zu reinigen und zu kleben, an diesem „unsterblichen Zeug“. Zudem digitalisiert Jakob Damms auch Filme.

Zur Gemütlichkeit in Damms „letztem Kino“ gehört nicht nur eine kleine Bar, sondern auch Georg von Weihersberg, der den noch stummen Film am Klavier mit Ragtime, ein Paar Takten Klassik und viel Improvisation heiter und freundlich begleitet. Der Eintritt ins Kinovarieté ist gratis, Spenden sind erwünscht. Im Mai wird die Veranstaltungsreihe mit einem Film über die „Kremlfrauen“ von 1980 fortgesetzt – damit die Sicht auf den Osten, so Damms, nicht allzu einseitig wird.

Gerold Paul, Björn Stelley

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