KulTOUR: Gedanken ohne Beständigkeit
Stahnsdorf - Manchmal überlege er etwas länger, wenn ihn eine Moderationsanfrage erreiche, sagt der isländisch-deutsche Autor Kristof Magnusson. „Aber bei Judith Hermann habe ich sofort Ja gesagt.
Stand:
Stahnsdorf - Manchmal überlege er etwas länger, wenn ihn eine Moderationsanfrage erreiche, sagt der isländisch-deutsche Autor Kristof Magnusson. „Aber bei Judith Hermann habe ich sofort Ja gesagt.“ Die Autorin, die im Saal des Peter-Huchel-Hauses neben ihm sitzt, lächelt bescheiden. Als Magnusson hinzufügt, dass Hermanns Kurzgeschichten für ihn damals, in den 90ern, „identitätsstiftend“ gewesen seien, freut sie sich sichtlich. Am Donnerstagabend las die Autorin allerdings nicht aus den Erzählungen, die für Magnussons Identität so entscheidend waren und für die sie damals von den Feuilletons ganz Deutschlands gefeiert und zur Ikone erhoben wurde. Sie las aus ihrem jüngsten Kurzgeschichtenband „Lettipark“.
In der ersten Erzählung geht es um zwei Paare in den Vierzigern oder Fünfzigern, sie tragen Namen wie Samanta oder Ivo und scheinen außer ihren bröckelnden Beziehungen keine Sorgen zu kennen. Am Restauranttisch tauschen sie sich ausführlichst darüber aus, ob sie den Dorsch, die Forelle oder den Heilbutt bestellen sollten. Nachdem diese Frage geklärt ist, erzählt einer der Männer, er habe als Student einmal Neil Armstrong getroffen. Es ist eine bedrückende Geschichte, die er daraufhin erzählt und plötzlich ahnen alle vier, dass das Leben nicht so viel Hoffnung zu bieten hat, wie sie in jüngeren Jahren gedacht haben mögen. Hermanns Prosa kommt gewohnt knapp daher, getreu dem Prinzip: Die eigentliche Bedeutung des Textes entsteht erst durch die Leser. Oder Hörer – in diesem Fall.
Von denen sind an diesem Abend im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst so viele erschienen, dass kein Sitzplatz unbesetzt geblieben ist. Mit einem Glas Chardonnay oder Zinfandel in der Hand lauschen sie und lachen, wenn vom Heilbutt als dem „Lamborghini der Meere“ die Rede ist. Am Ende der Geschichte aber scheint sich Ratlosigkeit breitzumachen, wenn es etwa heißt: „Es ging um all das, und darunter ging es sicher noch um etwas ganz anderes.“
In einer weiteren Geschichte sitzen zwei Frauen in der Küche der einen beisammen, als im Innenhof plötzlich Rauch aufzusteigen beginnt und Sirenen zu hören sind. Die Frauen reagieren ungewöhnlich: „Wir sitzen in einem brennenden Haus. Wir stoßen in einem brennenden Haus miteinander an, und im Übrigen tun wir das grundsätzlich.“, sagt eine von ihnen und plötzlich scheint es doch spannend zu werden, scheint es doch einen Bezug zur Wirklichkeit außerhalb dieses wohlig warmen Lesesaals zu geben. Aber die Erwartung bleibt nur von kurzer Dauer. Das Feuer im Hof entpuppt sich als harmlos, eine Selbstentflammung, wie sie in der Natur manchmal vorkomme. Eine der Frauen sinniert schließlich: „Liebe könnte eine Selbstentflammung sein, aber auch dieser Gedanke hat keine Beständigkeit, und sie verwirft ihn wieder.“ Weder entflammt noch mit neu gefundener Identität kann das Publikum nach diesem Abend also beruhigt schlafen gehen. Julia Frese
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: