zum Hauptinhalt

Potsdam-Mittelmark: Geschichte als Namenspate

Ehemaliger Obstverladeplatz auf Werders Insel heißt jetzt Tienenplatz

Stand:

Werder - Krachender Donner aus dem Kanonenrohr der Schützengilde zu Werder ließ Spaziergänger am südlichen Ufer der Inselstadt für Augenblicke erstarren, einige hielten sich auch die Ohren zu. Drei Salven sorgten dort am Samstag Nachmittag für ein leichtes Beben des ehemaligen Verladeplatzes.

Vermutlich nicht ganz so Ohren betäubend dröhnten Böllerschösse an gleicher Stelle vor rund 100 Jahren, um An- und Abfahrt der Transportdampfer zu signalisieren. Denn die einst dafür genutzte „Obstkanone“ passt bequem auf einen Karren und sieht eher nach einem Spielzeug aus. Handliches Format haben auch die daneben aufgestapelten kleinen Bottiche – Tienen genannt. Das waren aus Eichenholz gefertigte Transportbehälter, die rund 4,5 Kilogramm Obst fassten und meist mit Karren von den Obstgrundstücken bis zum Sammel- und Verladeplatz an der Föhse transportiert wurden.

Der historische Ort wurde nun in Erinnerung an dieses wichtige Kapitel der Stadtgeschichte im Beisein von Blüten- und Kirschkönigin von Werders 1. Beigeordneten, Hartmut Schröder, offiziell als Tienenplatz eingeweiht. „Obst ist unser Markenzeichen und hat die Blütenstadt wesentlich geprägt“, sagte Schröder. Wie bedeutsam die Obstzucht der Blütenstadt schon damals war, belegte er mit Zahlen. So wurden 1883 etwa 300 000 Tienen Kirschen, 21 000 Tienen Erdbeeren und 20 000 Tienen Himbeeren nach Berlin transportiert. „Wir wurden als Berlins Obstkammer bezeichnet“, erinnerte Schröder auch an das arbeitsreiche Leben der Obstzüchterfrauen. Sie legten nicht nur die Ernte schichtweise in die Tienen ein, wobei die Kirschenstiele alle gleichmäßig in eine Richtung zeigten, sondern sorgten auch für den Transport auf dem Wasserweg. Im 17. Jahrhundert noch in mehreren Schuten, die dicht mit Tienen bestückt von 20 Frauen gerudert wurden - meist waren sie bis zu zwölf Stunden unterwegs. Später übernahm der Raddampfer „Luise“ den Transport. Zuvor wurde das Obst zum Verladeplatz in Karren und Handwagen per Hundegespann oder Esel herbeigefahren. Gewöhnlich begann die Fahrt nach Berlin um 18 Uhr nach einem Böllerschuss. Die Nacht verbrachten die Frauen auf dem Oberdeck meist strickend auf ihrem „Berlinfahrerkuffer“. Das war eine Holztruhe, in der neben Proviant auch immer etwas Strick- oder Nähzeug war, um die Fahrtzeit sinnvoll zu nutzen. „Die Frauen haben gehökert, geschachert und die Geschäfte gemacht“, erzählt Heidemarie Garbe, bekannt als Werderaner Original „Die Muckersche“. In Berlin sei die schnoddrige Art der Werderschen Marktfrauen berühmt und berüchtigt zugleich gewesen, so Garbe.

Ein unvergessliches Schauspiel war es für den jungen Theodor Fontane, wenn er auf dem Weg zur Schule, die „großen Schuten dicht mit Tienen besetzt“ heranschwimmen sah und „auf den Ruderbänken zwanzig Werderanerinnen saßen und ihre Ruder und die Köpfe mit den Kiepenhüten gleich energisch bewegten“. Fontane bekannte in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, dass ihn damals „der Kuppelbau der umgestülpten und übereinander getürmten Holztienen“ mehr interessiert habe als eine Säulenwand des Schinkelschen Neuen Museums. Vielleichte faszinierte den Schuljungen auch die Farbigkeit der Gefäße, deren Oberhälfte rot, grün, weiß oder blau gestrichen war, als Kennzeichen ihrer Besitzer. Zur weiteren Unterscheidung waren Kreuze, Sterne und Kreise auf dem unteren Holz eingebrannt. Ehe die Tienen vom Spankorb abgelöst wurden galten sie bis ins 19.Jahrhundert als Maßeinheit. So entsprach damals der Inhalt einer Tiene einer Metze (3,44 Liter). Kirsten Graulich

Kirsten Graulich

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })