
© hkx/Buch
Von Henry Klix: Honigbuden und explodierende Fässer
Ingeborg Lauwaßer hat mit „Vater Felsch“ ihr zweites Buch über alte Zeiten in Werder geschrieben
Stand:
Werder (Havel) - Weihnachtszeit vor 170 Jahren: Das „Tippernüsse-Spiel“ war unter Werderaner Kindern ein Renner. Wer Glück hatte, konnte sich den Bauch vollschlagen. Die Regeln: Ein Haufen Pfeffernüsse, ein Spieler dreht sich weg. Dann darf er sich so lange am Haufen hinter seinem Rücken bedienen, bis er nach der von den anderen berührten „Tippnuss“ greift, schreibt „Vater Felsch“ in seinem „Tagebuch“. Zum Ende war das Gebäck durch viele schmutzige Hände gegangen. „Verzehrt wurde es trotzdem mit dem größten Appetit“, erzählt Felsch.
Die Werderaner „Lebenskünstlerin“ Ingeborg Lauwaßer hat Wilhelm Felschens biografische Aufzeichnungen im Stadtarchiv gefunden – und zum Erzählfaden ihres zweiten, selbstverlegten Büchleins über die Geschichte der Stadt Werder gemacht. Im Frühjahr hatte sie mit „Mord unter’m Kirschbaum“ in alten Zeitungen recherchierte Kriminalfälle geschildert. Diesmal geht es um das Leben einfacher Leute im 19. Jahrhundert, die Honigbuden auf dem Weihnachtsmarkt, das Wettrudern der Obstschuten nach Berlin, Hochzeiten, vor denen laut königlichem Erlass sechs Obstbäume zu pflanzen waren und Unfälle wie den in der „Abteilung II“ der Vereinigten, Werderschen Brauerei: Beim Versiegeln der Bierfässer mit Pech, dem „Pichen“, war ein Fass explodiert. Böttcher Schmidt, der auf dem Fass gestanden hatte, wurde „übel zugerichtet“: Stirnhaut abgetrennt, Nase abgerissen, Kiefer zerschmettert, Fuß gebrochen. Doktor Wachsmann nähte und verband die Wunden, dann wurde der Unglückliche in seine Wohnung gefahren.
Die Autorin hat die Aufzeichnungen des Wilhelm Felsch weitergesponnen, Zeitungsartikel oder Archivtexte eingefügt, wo es passend schien, sogar Rezepte wie das von den Pfeffernüssen. Alte Ausgaben des Zauch-Belziger Anzeigenblatts mussten ebenso herhalten wie die Schönemann- oder Lehmgrübner-Chronik, manchmal wünschte man sich Quellenangaben in dem 50 Seiten umfassenden, broschierten Werk. Lauwaßer gesteht, dass sie nicht den Anspruch von Chronisten und Heimatforschern verfolge. Es sei ihr um den Unterhaltungswert und vergangene Stimmungen gegangen. So fanden auch Fotos jüngeren Datums den Weg ins Buch und eine Story vom Förster , der von einer Zigeunerbande entführt und an deren Bären verfüttert wurde. Sie stand zwar einst in einer hiesigen Zeitung, allerdings als Korrespondenz aus Böhmen.
Vater Felschs Lebenslauf eignet sich derweil gut für ein historisches Panoptikum: Als er 1827 geboren wurde, „nicht länger als ein Sechsersemmel“, war seine Mutter Kellnerin, sein Vater in der Schulzschen Brauerei tätig. Beider Geld reichte nicht, um dem Jungen nach der Konfirmation die Lehre zu finanzieren. Er verdingte sich in Rohrschneiders Tongrube, bei Kaufmann Dehnicke und baute an der neuen Eisenbahnbrücke mit. 23-jährig fand er Arbeit bei der Weinbergswitwe Seiler, heiratete deren Tochter und wurde Obstbauer. Am Fuß der Wachtelburg eröffnete er 1878 eine Obstweinschenke, in der Saison wurde selbstgekelterter Wein verkauft. Vater Felsch verstarb 1911. Die einstige Schenke steht noch heute.
Ingeborg Lauwaßer arbeitet schon am nächsten Buch über die Wachtelburg und die anderen Höhengaststätten von Werder, auch ein fiktiver Kinderroman ist in Arbeit. Seit zehn Jahren lebt die gebürtige Berlinerin, die nach einer Kaufmannslehre sieben Jahre bei einem Berliner Telekommunikationsunternehmen gearbeitet hatte, bei ihrem Lebenspartner in Glindow. Das Haus gehörte mal zu einer Ziegelei. Der Umzug sei ein „Quantensprung“ in ihrem Leben gewesen. Die quirlige Autorin hat – wie Vater Felsch – auch selbst an vielen Werderaner Stationen gehalten: Sie betrieb das frühere Michaeliscafé auf der Insel, einen Likör- und Marmeladenladen, gründete einen Kulturverein, organisiert Lesungen, Ausstellungen und betreibt die Internetplattform havel-kuenstler.de. Sie müsse ja schließlich Geld verdienen, derzeit im Antik- und Trödelladen „Charlotte“ auf der Insel. Was sie sonst noch antreibt? „Ich kann nicht ruhig sitzen“, platzt es aus der 51-Jährigen.
Auch bei Vater Felsch lässt sie es sprudeln. Ausführlich wird die Gründung des Postamts geschildert, das vom pensionierten Bürgermeister Rietz im Morgenmantel und Pfeife paffend geführt wurde. Manchmal zündete er sich die Pfeife, zur Freude der Kinder auf dem Marktplatz, mit dem Brennglas an. Nur zur Revision schlüpfte er in seinen Dienstrock. Auch der Preiskampf zwischen den Obstschuten-Eignern gegen die aufkommende Dampfschifffahrt in den 1860er Jahren bekommt gebührenden Raum: Es ging um ein gutes Geschäft, den Obsttransport von Werder nach Berlin. Die Obstbauern waren froh, wenn ihre Frauen nicht bei Wind und Wetter die wackligen Schuten rudern mussten. Die Dampfschiffe waren allerdings teurer. 1861 ließen sich Obstzüchter ihren eigenen Raddampfer bauen: es folgten eine Klage, eine Missernte, eine Pleite Der bildhafte Stoff hat das bisweilen Zeug zum Roman.
„Zum Vater Felsch“ ist für 9,80 Euro bei „Charlotte“, Torstr. 2, zu kaufen. Mit dem Buch ist auch eine Hörspiel-CD erschienen.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: