Potsdam-Mittelmark: Im Joghurtbecher Schlamm geschaufelt
50 Jahre Templiner Bahndamm: Hinrich Byl arbeitete als Taucher auf der Großbaustelle der DDR
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Schwielowsee / Potsdam - 50 Jahre alt wird der Bahndamm über den Templiner See am 29. September. Hinrich Byl war 19, als der Bau errichtet wurde. Der Potsdamer war in einem 16-köpfigen Tauchertrupp, der einen der beiden Brückenpfeiler einbaute, die die 140 Meter lange Bogenbrücke über den See tragen. Zur Geschichte des Baus (PNN, 1. März) fügt der Zeitzeuge ein Kapitel hinzu. „Wenn ich im Zug über den Damm fahre, denke ich immer: Das ist mein Pfeiler.“
Byl war auf der Großbaustelle, um sich „zu bewähren“. Etwa 1000 Menschen waren hier tätig – mangels Arbeitskräften auch eine ganze Anzahl aus dem kriminellen Milieu. „Die Verbrechensrate in Potsdam stieg und es gab ein großes Polizeiaufgebot in der Stadt“, erinnert sich Byl. Er selbst war auf die Baustelle gekommen, nachdem er bei der Kasernierten Volkspolizei entlassen worden war: Byl hatte versucht, bei einem Laboranten den angeblichen Libido-Hemmer „Hängolin“ im Kasernen-Essen nachweisen zu lassen.
Als beim Bahndamm-Schippen gefragt wurde, wer zu einer Taucherausbildung will, meldete sich Byl – der Lehrgang auf der Baustelle des Kraftwerks Vockerode verlangte alles ab. Danach wurde er beim Bau des Templiner Damms Brigadier des jungen Tauchtrupps. Der Auftrag hatte es in sich, auch wenn ohne Taucherausrüstung gearbeitet werden konnte: Das Team grub sich in einer Betonglocke durch eine 35 Meter dicke Schlammschicht, damit der „Pfeiler I“ festen Seegrund bekam.
Das Faulschlamm-Problem hatte die Bauleute schon beim Aufschütten des Bahndamms beschäftigt: Mit dem Projekt wurde ein in Europa bislang einmaliges Gründungsproblem gelöst. Aus Schuten wurde Kies in die Mittelachse des künftigen Damms gekippt. Um den „Schlammpudding“ darunter „weichzuklopfen“, wurden Eimerketten mit Sprengladungen in Bohrungen in den See eingelassen. Die kontrollierten Sprengungen führten zum Absenken der Kies-Linse, die schließlich festen Grund erreichte.
Bei den Brückenpfeilern wurde indes in der so genannten „Caisson–Bauweise“ gearbeitet, erinnert sich Byl. Die Betonglocke wurde wie ein Joghurtbecher über das Wasser auf den Schlammgrund gestülpt, durch den Unterdruck blieb es darin trocken. Während die Arbeiter unter dem Wasserspiegel den Schlamm wegschippten, wurde oben schrittweise der Brückenpfeiler aufgebaut. In der Pfeilermitte blieb ein Durchlass, aus dem Schlamm und Arbeiter hochbefördert wurden. Als der Grund erreicht war, wurden Glocke und Durchlass mit Beton ausgegossen.
Der Luftdruck machte den Bauleuten zu schaffen. „Ich bekam unten schlimme Zahnschmerzen und der Zahnarzt wollte es mir anfangs gar nicht glauben, bis er ein winziges Loch im Zahnhals entdeckte“, so Byl. In der Druckkammer wurde regelmäßig die Konstitution des Trupps kontrolliert, nicht jeder hielt es vier Stunden lang 30 Meter unter dem Seespiegel aus.
Byl erinnert sich noch an einen anderen Aspekt: Wichtigstes Ziel war damals, eine Umgehungsbahn um Westberlin zu bekommen, anfangs vor allem, damit Mitarbeiter im Staatsapparat nicht von Potsdam durch Westberlin zur Arbeit mussten. Sabotage auf der Baustelle sei ein Thema gewesen, sagt Byl. Mitarbeiter des Ministeriums des Innern überwachten die Anlage, so gut es ging.
Dennoch kam es vor, dass zum Beispiel Schrauben im Schiffsgetriebe auftauchten. Westdeutsche Vermesser sollen die Bauleute auch im Unklaren über die tatsächliche Tiefe der Schlammschicht gelassen haben. Zudem hielt sich auf der Baustelle das Gerücht, dass auch die Wahl der Strecke Sabotage war: Der Damm führt 1,4 Kilometer über die breiteste Stelle des Sees. Auf eine Einweihungs-Zugfahrt mit Prominenten wurde verzichtet – laut Byl aus Sicherheitsgründen.
Für den hemdsärmligen, jungen Mann sollte sich der Einsatz am Ende nicht nur finanziell ausgezahlt haben: Rund 1000 Mark bekamen die Taucher, ein stolzer Monatslohn. Und Byl durfte nach dem Einsatz ein Studium als Heimerzieher beginnen – er hatte sich bewährt. Henry Klix
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