
© Manfred Thomas
Potsdam-Mittelmark: „Jede Bombe tickt anders“
Hans-Jürgen Weise machte in 38 Berufsjahren 394 Blindgänger unschädlich – nun geht er in Rente
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Kummersdorf – Sein Beruf ließ keinen einzigen Irrtum zu. Denn jeder Fehler hätte mit großer Sicherheit zum Tode geführt. Doch Hans-Jürgen Weise machte in 38 Jahren alles richtig. Er entschärfte 394 Bomben und ordnete die Sprengung von drei Blindgängern an, die sich nicht mehr demontieren ließen. Gestern wurde Brandenburgs dienstältester Sprengmeister an seinem Arbeitsplatz im Kampfmittelbeseitigungsdienst in Kummersdorf-Gut bei Zossen in den Ruhestand verabschiedet. Vor wenigen Tagen hatte der gelernte Schlosser, der selbst während eines Fliegerangriffs mitten im Zweiten Weltkrieg zur Welt gekommen war, seinen 65. Geburtstag gefeiert. Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) würdigte Weise als einen äußerst zuverlässigen und besonnenen Mann, der seinen großen Erfahrungsschatz rechtzeitig an jüngere Kollegen weitergegeben habe. „Die gefährlichen Hinterlassenschaften im Brandenburger Boden werden uns mindestens noch 50 Jahre beschäftigen“, sagte der Minister. „Rund zehn Millionen Euro werden jährlich für Suche und Entschärfung der Blindgänger ausgegeben.“ 630 Tonnen Material werden dabei im Schnitt geborgen.
Hans-Jürgen Weise, der 1970 seinen ersten sowjetischen Bombenblindgänger entschärfte, kann sich fast an jeden einzelnen Einsatz erinnern. „Routine wäre immer tödlich gewesen“, sagte er. „Jede Bombe tickt und liegt anders.“ Das traf vor allem in Oranienburg zu, wo er aus 44 Bomben den äußerst heimtückischen chemischen Langzeitzünder herausgedreht hatte. An der Entschärfung weiterer 72 Bomben war er hier unmittelbar beteiligt gewesen. Auf die Stadt im nördlichen Berliner Umland fielen während des zweiten Weltkrieges tausende amerikanische Bomben mit einem raffinierten Zündmechanismus. Sie sollten erst Stunden oder Tage nach dem Abwurf detonieren, um die Aufräumungsarbeiten zu stören. Doch oft funktionierten die Zünder nicht, so dass die Sprengkörper bis heute als tickende Zeitbombe im Boden liegen.
Oft gehörte auch Potsdam zu den Einsatzorten. „Hier hatte ich vor sechs Jahren sogar ein sehr beeindruckendes Erlebnis“, erinnerte sich Weise. „Ich war unweit der Nuthestraße mit der Entschärfung eines Blindgängers beschäftigt, als keine zehn Meter hinter mir plötzlich ein etwa 70 Jahre alter Radfahrer auftauchte und mich fragte, was ich da ausbuddeln wollte.“ Der Mann hätte in seinem Garten die Evakuierung verpasst und nun einen Dieb vermutet. Ganz vorsichtig sei er schließlich aus der Gefahrenzone gebracht worden.
Am 4. August diesen Jahres wurde Weise schließlich zu seinem letzten Einsatz gerufen. An der Langen Brücke in Potsdam barg er den Zünder aus einer englischen 250-Zentner-Bombe. Die gesamte Innenstadt war deswegen evakuiert worden. „Mein Bauchgefühl sagte mir damals, dass nun Schluss ein sollte“, räumte Weise ein. „Ich hätte durchaus bis zum Ruhestand noch drei bis vier Bomben unschädlich machen können. Aber irgendwann musste Schluss sein.“ Sein Chef stimmte zu.
Im Freundes- und Kollegenkreis nennen ihn alle bis heute Philipp. Seine Lehrerin hatte ihn einst „Zappelphilipp“ gerufen, weil er nicht still sitzen konnte. Später war er die Ruhe selbst. Zuletzt vertraute er auf die von seinen Enkeln geflochtenen Freundschaftsbänder als Glücksbringer. Die trägt auch künftig, auch wenn er nie wieder nach einem Bombenalarm ausrücken muss.
Claus-Dieter Steyer
Claus-Dieter SteyerD
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