
© K.Graulich
Potsdam-Mittelmark: „Jetzt habe ich mein ganzes Leben erzählt“
Kleinmachnower Schüler haben Geschichten der Alten über Freundschaft und Liebe aufgeschrieben
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Kleinmachnow - War das eine Gaudi: Die weißen Kittel hatten sie kurzerhand aus dem Schwesternzimmer stibitzt. So als Pflegepersonal verkleidet, konnten sie ihren Freund samt Bett unbemerkt durch die Klinik rollen, hinaus in die Stadt. Der entführte Patient, dem der Arzt kurz zuvor noch eine Krankheit attestiert hatte, fühlte sich plötzlich pudelwohl. Sein Leiden war wie weggeblasen. Die „Entführung ins Leben“, so die Erinnerung des heute alten Mannes, sei für ihn eine Geschichte wahrer Freundschaft gewesen.
Rund 90 jugendliche Chronisten aus der Freien Waldorfschule, der Maxim-Gorki-Gesamtschule und der Berlin Brandenburg International School haben der Großelterngeneration für das Zeitzeugenprojekt „Lange Tafel“ Erinnerungen zum Thema „Freundschaft und Liebe im Wechsel der Zeiten“ entlockt. Am Samstag wurden einige der Geschichten während eines großen gemeinsamen Spaghetti-Essens an langer Tafel auf dem Rathausmarkt vorgetragen. Wer Lust hatte, konnte sich im Anschluss auch in andere Erzählungen hineinlesen, die an einer langen Wäscheleine baumelten.
Viele sind gezeichnet durch Kriegsereignisse, die oftmals dauerhafte Spuren im Leben der Betroffenen hinterlassen haben, die seinerzeit noch so jung waren wie heute die Schüler des Projektes.
Da ist zum Beispiel die 15-jährige Liselotte: Bei jedem Motorbrummen eines Flugzeuges zieht sie automatisch den Kopf ein. Bombenkrater und brennende Häuser sind ihr Alltag. Sehnsüchtig wünscht sie sich, ganz normal in die Schule gehen zu können, Freunde zu treffen, ohne Angst haben zu müssen.
Angst war auch der ständige Begleiter einer jungen Liebe eines Paares, die im Nationalsozialismus begann: „Nur weil er Halbjude ist, durfte ich ihn nicht heiraten. Wegen der Nazis noch nicht einmal lieben“, war dort zu lesen. Drei Wochen nach Kriegsende stehen beide in Berlin-Schmargendorf vor dem Standesbeamten, der, noch dem alten Trott verfallen, ihr „Unbedenkliches Gesundheitszeugnis“ abfordert. Erleichtert stellen alle drei dann fest, dass sie das nicht mehr brauchen. Den Trauschein in der Tasche und tausend Schmetterlinge im Bauch laufen sie nach Hause – als ihnen ein russischer Soldat begegnet. Er will den frischgebackenen Ehemann verhaften. Dass die beiden gerade geheiratet haben, stimmt ihn jedoch milde und er lässt sie nach Hause ziehen. Dort warten die Schwiegereltern mit dem Hochzeitsmahl, zu dem auch Gäste ein paar Dosen beisteuerten. Für das Paar war es der schönste Tag ihres Lebens.
Doch nur die wenigsten der von den Schülern niedergeschriebenen und manchmal auch leicht veränderten Geschichten haben so ein glückliches Ende. Trauer und Tragik überwiegen die niedergeschriebenen Erinnerungen.
Es sei nicht einfach gewesen, die älteren Gesprächspartner zum Erzählen zu bewegen, berichtet die 15-jährige Ronja über ihren Besuch im Seniorenheim Senvital. „Erst durch Nachfragen kamen wir an die Geschichten ran.“ Später beim Schreiben sei sie tief berührt gewesen, manches habe sie geschockt. Nachdenklich stimmte die Schüler, dass Kriege und politische Willkür im Leben jedes Einzelnen viele Narben hinterließen. Dieses Wissen werden die aufgeschriebenen Erinnerungen nun lebendig halten.
Dass die jungen Leute sich für ihr Leben interessieren, war auch für manche Alten eine Überraschung. Unter Tränen brach Vergessenes wieder auf, sagte Senvital-Seniorenheimleiterin Nicole Schulz. Eine ältere Dame habe ihr nach dem Gespräch erschöpft gesagt: „Jetzt habe ich mein ganzes Leben erzählt. Jetzt muss ich mich erst mal drei Tage ausruhen.“ Kirsten Graulich
Kirsten Graulich
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