Lese-Rechtschreibschwäche in Brandenburg: Kampf um die Buchstaben
Jürgen Lemkes Enkel leider unter der Lese-Rechtschreibschwäche. Der Rentner aus Kleinmachnow möchte eine Verwaltungsvorschrift des Bildungsministeriums zum Thema gern beim Wort nehmen. Doch der Austausch darüber wurde abgebrochen.
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Stahnsdorf/Potsdam - Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) ist ein Riesenproblem in Brandenburg, es gibt nach Landesangaben etwa 230.000 Analphabeten in Brandenburg. Die Zahl der Menschen, die massive Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, dürfte ungleich höher sein. Aber man kann ja in der Schule Vorsorge treffen, dafür wurde am 6. Juni 2011 vom Bildungsministerium eine Verwaltungsvorschrift erlassen.
Die liest sich für den Kleinmachnower Jürgen Lemke etwa so: Deutschlehrer erkennen schon bei ganz kleinen Abc-Schützen, dass sie besondere Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. Sie gehen auf Schüler, Eltern, Fachlehrer und Schulleitung zu. Es werden mit der Klassenkonferenz nach Kräften zusätzliche Förderstunden abgestimmt, für die Leistungsbewertung gelten andere Maßstäbe. Gegebenenfalls werden Fachleute hinzugezogen, um den Kindern das Abc zu vermitteln. Denn alle sind sich einig, dass es bei LRS gerade auf die ersten Schuljahre ankommt.
Lemke engagiert sich für Enkel - und für alle Schüler mit der Schwäche
Für Jürgen Lemke ist die Verwaltungsvorschrift die Pappfassade eines Potemkinschen Dorfs, dahinter neurussische Einöde, die reale Welt, die er mit seinem Enkelsohn Lennart* an einer Stahnsdorfer Grundschule erfahren hat. Lennarts Mutter arbeitet im Bildungsbereich, sodass der Großvater diese Einöde näher erkundete, nicht nur für Lennart, wie er betont, sondern für alle Eltern und Schüler mit diesem Problem. „Ich bin ja Rentner und habe die Zeit“, sagt der 66-Jährige.
Sehr viele Briefe hat er in den vergangenen Jahren geschrieben, an Bildungsbehörden, an den Petitionsausschuss des Landtags, an die Bildungsminister. Von dort erhielt er zuletzt die Antwort, dass nun alle Argumente ausgetauscht und keine neuen Erkenntnisse zu erwarten seien. „Ich möchte deshalb diesen Vorgang zu einem Ende führen und bitte um Ihr Verständnis, dass die Arbeitskapazitäten meines Hauses in Zukunft auch für die Anliegen anderer Bürgerinnen und Bürger genutzt werden“, schreibt eine Abteilungsleiterin des Ministeriums. Doch Jürgen Lemke findet, das Problem bestehe fort. Die Verwaltungsvorschrift vom 6. Juni 2011 werde immer noch nicht umgesetzt. Es gehe schließlich nicht nur um sein Enkelkind.
Kaum eine Schulklasse ohne Kind mit Legasthenie
Annette Retzke vom Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie Brandenburg bestätigt, dass es nach ihren Erfahrungen keine Schulklasse im Land gibt, in der nicht mindestens ein Kind mit Legasthenie und eins mit Dyskalkulie sitzt. Die zitierte Vorschrift lese sich auch für sie „wie ein schönes Märchen“. Jährlich würden sich etwa 30 ratlose Eltern mit der Bitte um Unterstützung an ihren Landesverband wenden. Es sei schwer für die Eltern, einen Nachteilsausgleich für ihre Kinder zu bekommen – zumal selbst schwere Fälle von Legasthenie bei der Bildungsverwaltung nicht als Behinderung, sondern nur als vorübergehende Schwäche gelte.
„Es gibt Lehrer, die sehr engagiert sind“, sagt Retzke. „Aber es gibt auch Lehrer, die sich schwer mit diesem Thema tun und denken, wenn sie helfen, würden sie einen Schüler bevorzugen.“ Oft würde LRS – trotz augenscheinlicher Signale – erst in der zweiten Klasse diagnostiziert und Förderstunden dann erst in der dritten oder vierten Klasse beginnen – die wiederum stets als erstes ausfallen, wenn ein Lehrer fehlt. „Eine ordentliche Eingliederungshilfe gibt es oft erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, so Retzke.
Tränen bei einer Geburtstagskarte von Lennart
Die Erfahrungen, die Lennarts Mutter gemacht hat, decken sich mit diesen Eindrücken. „Die Schwierigkeiten bei Lennart sind in der zweiten Klasse sichtbar geworden“, erinnert sich Julia K. Ihr Sohn habe Probleme mit jedem einzelnen Buchstaben gehabt. Bei den Schularbeiten habe sie bemerkt, dass etwas schiefläuft. Bei einer Geburtstagskarte, die Lennart schrieb, seien ihr die Tränen gekommen, weil sie sie nicht entziffern konnte.
„Ltta wln mtir Papa Spil“ ist der erste Satz eines Diktates, dass Lennart noch zu Beginn der zweiten Klasse schrieb. Selbst da wurde in seiner Stahnsdorfer Schule nicht gesehen, dass es ein Problem gibt, wundert sich Julia K. Sie recherchierte zu dem Thema und bekam schnell mit, dass die Chancen für die Kinder sich verbessern, je früher man interveniert. Doch auf der Suche nach Hilfe kam ihr niemand entgegen.
Kaum Hilfe von außerhalb
Sie sieht die Schuld nicht bei den überlasteten Grundschullehrern, es sei ein systemisches Problem. Das findet auch Lennarts Opa. „Man muss den Jugendämtern und Behörden alles aus der Nase ziehen“, sagt Jürgen Lemke. Alles, was der Junge an Hilfe bekommen sollte, mussten sie sich erkämpfen, sagt Julia K. Ob den Förderunterricht, der in Klasse drei zunächst an der Kleinmachnower Eigenherdschule begann und erst in diesem, Lennarts viertem Schuljahr auch an der eigenen, wo es allerdings noch keine ausgebildete Fachkraft dafür gibt. Ob die Finanzierung einer Therapie durch das Jugendamt – anfangs finanzierte die Familie die Unterstützung noch privat. Selbst das Gutachten, das Voraussetzung für jede Beihilfe war, musste mit langer Wartezeit errungen und dann wiederholt werden, um die Therapieförderung zu verlängern. Vonseiten der Schule werden die Kinder erst ab Klasse fünf begutachtet, sei ihnen gesagt worden. Viel zu spät, findet Julia K.
Was also ist mit der Verwaltungsvorschrift vom 6. Juni 2011, die Lennarts Opa aus dem Internet fischte? „Wenn man die mit Leben erfüllt, ist viel gewonnen“, sagte er. Auf eine Petition ans Bildungsministerium bekam Lemke die Antwort, dass an Lennarts Grundschule seit zwei Jahren ein Förderkonzept umgesetzt werde, dass im Zuge dessen alle Lehrer zum Thema Teilleistungsschwächen fortgebildet worden seien, dass eine Informationsveranstaltung zum Thema LRS durchgeführt worden sei, die Schule über entsprechendes Unterrichtsmaterialien verfüge. All das sei nur auf Initiative von ihm und Lennarts Mutter geschehen, sagt Jürgen Lemke kopfschüttelnd.
Lernschwache werden nicht integriert
Und es sei doch nur ein Anfang. Julia K. nennt ein anschauliches Beispiel, wie die Integration Lernschwacher in Brandenburg danebengeht: Lennart kann gut rechnen, an der Mathematikolympiade dürfte er aber nicht teilnehmen. „Es stand schlicht niemand zur Verfügung, der ihm die Aufgaben vorlesen konnte.“
Fünf betroffene Mütter haben sich nun mit Jürgen Lemke an Bildungsminister Baaske gewandt. Ihre Frage: Wie will das Ministerium seine eigene Verwaltungsvorschrift endlich mit Leben füllen?
*Name geändert
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