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Potsdam-Mittelmark: Klassik und Legenden zum Kuchen

Im Michendorfer „Apfelbaum“ spielte Lothar de Maizière nicht nur Mozart

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Michendorf - Am Anfang herrscht Unsicherheit, mehr auf der Bühne als im Publikum. Es ist Samstagnachmittag im Michendorfer Gemeindezentrum „Zum Apfelbaum“. Mit Mozart steht Klassik auf dem Programm und als prominenter Musiker ist der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière angekündigt. Doch Hans-Joachim Scheitzbach hat Bedenken. Der ehemalige Solocellist der Komischen Oper Berlin steht auf der Bühne und hebt beschwörend seine Hände. „Wir sind Klassiker“ sagt er. Das Publikum im Saal, fast nur Rentner, klappert ungerührt mit den Kaffeetassen.

Scheitzbach spricht von der Musik, die zwar schwer sei, trotzdem aber Ehrfurcht verdiene. Und wenn nicht jeder im Saal alles verstehe, so hoffe er, dass alle spüren, dass hier etwas „Großartiges“ passiere. Er sagt, dass er Pensionär sei und blickt unsicher zum schweigenden Publikum. Dann ruft Scheitzbach: „Ich bin jetzt einer von Ihnen“ und Applaus brandet auf.

Ganz unbegründet scheinen Scheitzbachs Bedenken nicht. Die Tische im großen Saal schmücken weiße Tischdecken und rote Kerzen. Im Eintrittspreis inbegriffen sind Kaffee und Kuchen. Entsprechend lang ist die Schlange vor der Theke. Ob hier Mozarts Musik auf interessierte Ohren trifft?

Bevor Lothar de Maizière auf die Bühne tritt, spielen Cellist Scheitzbach und Konrad Other auf der Violine ein kurzes Duo. Dann folgt ein Satz aus einem der „Preußischen“ Streichquartette. Das Klappern von Tassen und Kuchengabeln im gut gefüllten Saal wird immer leiser. Für das Streichquintett Nr. 4 in g-moll ruft Scheitzbach den prominenten Mitspieler Lothar de Maizière auf die Bühne.

Es folgen die fünf Sätze aus dem Streichquintett, die Pausen dazwischen nutzen Scheitzbach und de Maizière für kurze Gespräche. So erzählt de Maizière, der an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin Bratsche studiert hat, nach zehnjähriger Konzerttätigkeit wegen einer Nervenentzündung im Arm den Beruf wechseln musste und daraufhin Jura studierte, von seinem Weg in die Politik, der vor allem ein zufälliger war. 1989 überschlugen sich die Ereignisse, de Maizière wurde Vorsitzender der CDU in der DDR und später Ministerpräsident. „Der erste frei gewählte“, wie er betont. Dann erzählt er von Moskau, wo er am 12. September 1990 den so genannten 2+4-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges mitunterzeichnete und der die deutsche Einheit besiegelte. Die Speisekarte für das Essen danach war voller Rechtschreibfehler, bei der Unterzeichnung bestand die sowjetische Seite auf einen DDR-Stempel und der billige Füllfederhalter „Made in Taiwan“, mit dem er unterschrieb und den er als Andenken mitnahm, wurde in späteren Berichten zu einem goldenen und äußerst wertvollen Exemplar. „Aber Geschichte lebt ja nicht allein von Fakten, sondern vor allem von Legenden“, so de Maizière, der im Oktober 1991 unzufrieden freiwillig der aktiven Politik den Rücken kehrte.

Mit dem lockeren Plauderton verfliegen Scheitzbachs anfängliche Bedenken, was sich auch auf die Musik überträgt. Mozart kommt leicht daher, man lauscht hauptsächlich auf die Bratsche, die de Maizière mit der dem Instrument entsprechenden Zurückhaltung spielt. Vor allem der dritte, sehr getragene Satz wird unter den fünf Musikern zum packenden Hörerlebnis. Kein Geklapper mehr im Saal, nur Schweigen. Lothar de Maizière genießt sichtlich das Zusammenspiel. Und man hat das Gefühl, dass de Maizières Bemerkung, sein beruflicher Werdegang vom Musiker zum Anwalt und dann zum Politiker war ein einziger Abstieg, vielleicht doch mehr war, als nur ein Scherz.

Dirk Becker

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