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KulTOUR: „Krückstock für’s Leben“

Benjamin Stein las in Wilhelmshorst aus seinem Doppelroman „Die Leinwand“

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Michendorf - Eigentlich ist nicht so neu, was der zum orthodoxen Judentum konvertierte Erfolgsautor Benjamin Stein in seinem Doppelroman „Die Leinwand“ entwirft. Man kennt die Differenzen zwischen Alexanders wahrer Biographie und der mittelalterlichen Historia, erinnert sich an das 1967 erschienene Stück „Biographie ein Spiel“ von Max Frisch, an die erdichtete Spanienkämpfer-Vita des Autors Stephan Hermlin, die Fälschungen von Günter Grass. Man diskutierte darüber ohne Ergebnis. Die Sache wird freilich richtig heiß, wenn es um Juden und um Auschwitz geht.

Von einem solchen Fall erzählt Benjamin Stein. Mit seinem Geigenbauer Minsky beruft sich auf das merkwürdige Schicksal von Binjamin Wilkomirski, der als angeblicher Holocaust-Überlebender und Möchtegern-Jude vom echten Juden Daniel Ganzfried als Fälscher entlarvt wurde. Ihm hatten weder Faschisten in Riga die Familie genommen und ihn mit dem Kopf an eine Mauer geknallt, noch war er je in Auschwitz. Es kam sogar heraus, dass er sein Heimatland Schweiz nie verlassen hatte, wie seine musikalische Begleiterin aus New York, die ihre Identität mit dem Faktor „Jüdin in Auschwitz“ belud, um an Sühnegelder zu kommen.

Am Dienstag war Benjamin Stein (auch er hat als Konvertit mit neuem Namen eine zweite Identität angenommen) im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus zu Gast. Er kennt Binjamin Wilkomirski alias Bruno Dössekker persönlich, wie sein Gesprächspartner Hendrik Röder vom Literaturbüro auch. Nicht viel Besuch, aber ein spannender Abend im Kiefern-Ort.

Bei dem 1970 in Ostberlin geborenen Autor ist alles ein bisschen anders. Er mochte nicht die äußere Vita des Schweizers dokumentieren, nutzt diese nur als Leinwand, um eigene Farben, Gedanken, aufzutragen. Ihm geht es auch nicht um Politik und Geschichte, nur um die innere, die literarisch gestaltete Biographie, eingebettet in das Spannungsfeld von Authentizität und Gedächtnis: „Egal was davon wahr ist, die Leiden dahinter sind echt.“

Der Leser hat zwei Geschichten simultan zu verarbeiten, die des jüdischen Journalisten Jan Wechsler, der mit einem anonym zugestellten Koffer nichts anfangen kann, weil sein Gedächtnis die Erinnerungen nicht, oder nicht mehr korrekt herausgeben will. Und die des jüdischen Psychoanalytikers Zichroni. Der nämlich riet dem Geigenbauer Minsky erst, seine angeblichen Auschwitz-Traumata schreibend aufzuarbeiten. Wechsler liest dieses (von Wilkomirski tatsächlich verfasste) Buch und erkennt es als Fälschung.

Beide Figuren werden also von dem unechten Juden berührt, jeder auf seine Weise, und in den beiden Texten nicht mal zentral. Das Buch ist so gedruckt, dass man eine Geschichte von vorn, die zweite vom anderen Buchdeckel her lesen muss. Das „unheilbare“ Phänomen Wilkomirski sei kein Einzelfall, war zu hören. Auch keine „Inszenierung“, wie der Hendrik Röder vermutete. Eher etwas, „das man mit den Sinnen nicht fasse“. Eine Wunsch-Biographie ohne materielle Absicht, „eine gigantische persönliche Tragödie, nur literarisch verhandelbar, nicht politisch“. Für den Konvertiten Stein „ein Schlüsselroman“ per se: Identität als „Krückstock des Lebens“ erhält den Menschen, ihre Wegnahme tötet. Das Gedächtnis („Sitz unseres Ich“) aber verwandelt Erinnerung, ändert damit die echte Biographie. Was ist nun echt, was nicht? Gerold Paul

Benjamin Stein: Die Leinwand (Roman), C. H. Beck, München 2010.

Gerold Paul

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