Potsdam-Mittelmark: Märchenstunde im Rathaus
Ein fabelhafter Abend für Erwachsene in Kleinmachnow, an dem alle Wünsche in Erfüllung gingen
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Kleinmachnow - Der erwachsene Märchenzuhörer hat die 50 meist schon überschritten, zuweilen deutlich. Er hält beim Zuhören den Kopf leicht geneigt und lächelt beseelt - womöglich altersweise, weil ihm die Botschaften und Parabeln des soeben Erzähltem aus dem eigenen Erfahrungsschatz vertraut vorkommen. Ganz sicher doziert der erwachsene Märchenliebhaber auch im eigenen Alltag solch alte Weisheiten wie „Ende gut, alles gut“ oder „Was ist ein Wald ohne einen Baum?“
Der erwachsene Märchenliebhaber ist meist weiblich. Zumindest hier, im Kleinmachnower Rathaus, sind von den 27 Gästen 21 Frauen. Vielleicht liegt die feminine Dominanz darin begründet, dass der männliche Märchenrezipient in den vergangenen Wochen seine Einstellung zum Märchen grundhaft verändert hat und deutlich mehr Realitätssinn erwartet: Seit Sönke Wortmanns Fußball-Doku „Deutschland – ein Sommermärchen“, besteht Mann auf mindestens elf Helden statt auf lächerliche sieben Zwerge.
Jeden November veranstaltet der Berlin-Brandenburgische Märchenkreis e.V. seine Märchentage. In diesem Jahr heißt das Motto „Die Donau, ein Märchenfluss“. In 1300 Veranstaltungen an 330 verschiedenen Orten wird Sagenhaftes von Europas zweitgrößtem Fluss erzählt. Es gibt Symposien über die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, eine „Nacht der langen Zähne“, Vorträge, Diskussionsabende und Ausstellungen. Es kann sein, dass man sich im Kleinmachnower Rathaus auch außerhalb der Novemberzeit zu Besuch im Märchenland wähnt. An diesem Freitagabend war aber auch das Ambiente stimmig: schummriges Kerzenflackern, Tischdecken aus rotem Samt, vor den Fenstern blaues, transparentes Tuch mit Sternen und Halbmonden bedruckt. Im Halbkreis lauschte man den vier Gesandten der Europäischen Märchengesellschaft, die Geschichten erzählten vom Hasen, der im Suff den Wolf erschlug, oder von einem Holzfäller, der in einem Bambusstamm ein kleines Mädchen fand. Marie Gloede, Ursula Pitschke, Bärbel Becker und Karin Elias – männliche Erzähler sind in der Zunft offenbar genauso rar wie männliche Zuhörer – hatten Ernstes, Heiteres und Frivoles versprochen. Um das Versprechen zu halten, brauchen sie ein gutes Gedächtnis, alles wird auswendig vorgetragen. Hilfreich ist auch ein gewisses Maß an theatralischer Gestik, welche die vortragenden Damen so sehr verinnerlicht haben, dass sie sogar in der Pause feenhaft, sanft lächelnd und mit gefalteten Händen zum Büfett mit Lachsschnittchen und Salamikanapees schwebten.
Vom offiziellen Text der Berlin-Brandenburgischen Märchentage wurde etwas abgewichen – nicht die Donau bildete in Kleinmachnow den thematischen Rahmen, sondern der Wald. „Wir Kleinmachnower wissen, wo die schönsten Eichen stehen“, behauptete Märchentante Pitschke, „wenn nicht, lassen Sie sich es erzählen.“ Am besten hätte das wohl der Biologe und Naturschützer Gerhard Casperson gekonnt, der wie kein anderer jeden Halm der örtlichen Fauna und Flora untersucht hat. Er war einer der sechs Männer im Publikum, behielt sein Wissen um Kleinmachnows Baumbestand diesmal jedoch für sich. Schließlich hatte er sieben Euro bezahlt, um sich an diesem „besonderen Abend“ selbst unterhalten zu lassen.
Es war fabelhaft: Eichen verwandelten sich in Prinzen, Zauberinnen, hässlich wie die Nacht, wurden besiegt. Ein in Zaubermilch getunktes Stück Brot ließ einen Jüngling zwischen Bäumen dutzende nackte Jungfrauen sehen. Dass die Gute-Nacht-Lektüre tatsächlich nichts für Kinder war, lag am Trio „Amulette“ - zwei holden Weibsbildern und einem feschen Sänger.
So mancher Vers ihres mittelalterlich intonierten Liedguts war alles andere als jugendfrei, etwa ihr Gesang vom „langen Ding“ unter der Kutte eines Mönches und einer Nonne, die ihm die Scheide leihen will. Die weibliche Zuhörerschaft hat diese frivole Vortragskunst sehr wohl erheitert, zwischendurch gab es sogar einen mutigen Bravo-Ruf und der Beifall war durchaus leidenschaftlich. Selbst der Ratschlag, „es soll sich der Mensch nicht mit der Liebe abgeben, denn die Liebe hat versaut so manch junges Leben", sorgte für Entzücken im reifen Publikum. Holla, die Waldfee!
Märchen leben von einer romantischen Sprache: Jorinde und Joringel „hatten das größte Vergnügen, eins am anderen“ – das klingt wie Poesie im November. Silke Fischer vom Deutschen Zentrum für Märchenkultur glaubt, dass der „Wunsch, geliebt zu werden, glücklich zu sein und einen Schatz zu besitzen“ jährlich über 100 000 Besucher zu den Märchentagen kommen lässt. In Kleinmachnow hat es Rathaus sind alle Träume in Erfüllung gegangen. Ein Märchen eben.
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