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Von Henry Klix: Mischobst und Früchtchen

Werders Karnevalsclub geht in die 50. Saison – und erinnert sich an alte und neue Skandale

Stand:

Werder (Havel) - Walter Kassin bekommt noch weiche Knie, wenn er sich an die Werderaner Karnevalssaison 1987 erinnert. Zum Eröffnungsball hatte er nach dem dritten Cognac eine Grenze überschritten. Sein „Stammtisch“ mit Gert Lenz war seinerzeit ein populärer Programmpunkt, Lenz erzählte wahrheitsgemäß: „Hast Du gehört, die Renten wurden erhöht. Dafür dürfen Rentner nicht mehr arbeiten gehen und dazuverdienen.“ Kassin: „Und wer regiert uns dann.“

Der Karnevalsclub Werder geht in diesem Jahr in die 50. Saison. Walter Kassin ist eine der Legenden, die Vereinsgeschichte schrieben. Sein Gag über das betagte SED-Politbüro führte zum Eklat: Ortsparteisekretär Heitsch und Bürgermeisterin Schrader verließen den Saal. „Alles johlte“, so Kassin, heute Ehrenpräsident des Vereins. Als es am Morgen darauf klingelte, dachte er, es ist die Stasi. Am Balkon stand stattdessen Vereinsfreund „Jazze“ und wollte wissen, ob er noch da ist. Nur in der GPG Obstproduktion, in der Kassin damals arbeitete, gab es etwas Ärger. „Der Witz lief weiter, jeden Abend.“

Der KCW hatte da schon zweieinhalb turbulente Jahrzehnte hinter sich. Am 11.11.1961 war erstmals ein Elferrat im Rathaus empfangen worden. Am Abend fand in der HO-Gaststätte Friedrichshöhe vor 280 Zuschauern die Proklamation statt. Der Karneval entwickelte sich zum Renner, sagt Zeremonienmeister Joachim Raupach, dem KCW seit 49 Jahren treu. In der zweiten Saison bildete er mit Rita Juche (geb. Wils) das Prinzenpaar. Die damals 17-Jährige war in Werder auch als DDR-Meisterin im Kunstradfahren bekannt. Raupach: „Ich holte mir das Einverständnis ihres Freundes.“

Rita Juche weiß noch, dass sie sich „bei Luberda“ ein weißes Kleid mit Pailletten und Schleppe und einen weinroten Samtumhang schneidern ließ. Die Prinzenrobe von Raupach kam aus dem Kostümfundus der Defa. Beim Karnevalsumzug schauten beide aus dem offenen Schiebedach eines 311er Wartburgs. „Wir froren wie die Eskimos, es wurde uns öfter ein Fläschchen zugereicht“, so Juche. Viele der früheren Prinzenpaare werden Samstag um 18 Uhr zum Prinzenempfang auf der Bismarckhöhe erwartet, danach steigt der ausverkaufte Jubiläumsball. 1967 standen 3000 Kartenwünsche 1100 Karten gegenüber. „Die Leute haben im Vorverkauf stundenlang gewartet“, so Raupach. Derweil wurden die Büttenreden bis Anfang der 80er Jahre auf systemfeindliche Witze durchgesehen. „Im zehnten Jahr wurden sämtliche Reden verboten.“ Nur durch eine Intervention bei der SED-Kreisleitung konnte die Session gerettet werden.

Viele der politischen Witze wurden – hoch über der Havel – trotz Verboten erzählt. Schon 1961 benannte der Elferrat „Minister für Schlaglöcher“, die Frauengesangsgruppe nannte sich nach einer höchst umstrittenen Konserve „Mischobst“. Auch der Gag Walter Kassins Mitte der 70er, dass der Papst in die DDR kommen will, damit die Preise nicht in den Himmel steigen, ist in Erinnerung geblieben. Der Brotpreis war seinerzeit von 58 auf 74 Pfennig erhöht worden. Um solcher politischen Seitenhiebe kam das Publikum in Scharen. Der KCW wurde auch für Betriebsfeste gebucht, von der Kremmener LPG bis zur Notenbank, die 6000 Mark für den Abend hinblätterte.

Die Bedingungen in der Friedrichshöhe waren indes desolat: Im strengen Winter 62/63 war die Gaststätte wegen der knappen Heizmaterialien gesperrt. „Wir bekamen auch für den Karneval keine Kohlenkontingente zugeteilt. Aber wir kriegten einen Bezugsschein, mit dem wir Holz schlagen durften“, erzählt Joachim Raupach. Also schwitzte der Elferrat für die warme Saison. Es gab weitere Nöte, defekte Wasserleitungen, marode Dächer und Sanitäranlagen. In der 27. Saison marschierte der Elferrat mit gelben Bauarbeiterhelmen ein

Während sich andere Vereine zur Wendezeit schwer taten, wurde der Karneval in Werder selbst 1989/90 gefeiert. „Wir mussten Überzeugungsarbeit leisten, damit die Gruppen im November alle noch kamen“, so Raupach. Im Februar 1995 wurde die Friedrichshöhe erstmals Schauplatz der ORB-Show „Hier steppt der Adler“. Ex-Ministerpräsident Manfred Stolpe machte als Büttenredner Werder zur „schwarzen Insel im roten Meer“.

Für karnevalistische Furore ist der KCW bekannt geblieben: Als der ORB mit der Show nach Cottbus zog, stichelte Büttenredner Raupach: „Weg von Früchten und Blüten, hin zu Gurken in Tüten“ – und erntete minutenlange Buh-Rufe. Im September 1996 richtete der KCW eine Tagung des „Bundes Deutscher Karneval“ aus, die Prinzengarde führte im Rahmenprogramm den Nonnentanz auf. Ein Skandal! Die BDK-Führung sprach von einer „Diskriminierung religiöser Menschengruppen“. Das abgehärtete, heimische Publikum hatte den Programmpunkt im Februar mit tosendem Applaus bedacht.

Schlüsselübergabe heute um 11.11 Uhr vor dem Alten Rathaus. Um 16 Uhr wird im Turm der Bismarckhöhe eine Ausstellung zum Vereinsjubiläum eröffnet.

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