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Potsdam-Mittelmark: Opulenz für kleine Leute

Mit 1300 Betten und modernen medizinischen Geräten waren die Beelitzer Heilstätten ihrer Zeit voraus. Darüber gibt es jetzt ein Buch

Stand:

Beelitz - Idyllische Ruhe statt Großstadtlärm, einladende Gebäude statt schmuddeliger Mietskasernen – vor allem aber jede Menge frischer Luft: Den Berliner Arbeitern, die vor hundert Jahren in die Beelitzer Heilstätten kamen, muss dieser Ort wie eine andere Welt vorgekommen sein. Auf dem mit 200 Hektar riesigen und damals hochmodernen Klinik-Komplex mitten im Wald sollten sie von ihren Gebrechen kuriert werden: Nerven- und Gefäßkrankheiten, vor allem aber die Massenseuche Tuberkulose hatte der Arbeits- und Lebensalltag in der Großstadt nach sich gezogen. Über 130 000 Patienten wurden hier allein bis 1926 behandelt.

Über das erste Vierteljahrhundert der Heilstätten hatte die Landesversicherungsanstalt Berlin (LVA) als Eigentümer 1927 eine Denkschrift herausgegeben – mit Schilderungen zur Entwicklung der Anlage, zu den verschiedenen Einrichtungen und mit Fotografien von heute unschätzbarem Wert. Das Buch war in Vergessenheit geraten, jetzt ist es auf Initiative des Beelitzer Bürgermeisters Bernhard Knuth vom Berliner Verlag Ernst Wasmuth neu aufgelegt worden. „Der Band ermöglicht es, die Heilstätten in ihrem historischen Kontext besser zu verstehen“, so Knuth in einem Vorwort.

1898 hatte die LVA mit dem Bau der Anlage begonnen, vier Jahre später ging sie mit 600 Betten in vier Häusern in Betrieb. Daneben gab es eine Waschküche, ein Badehaus, ein Verwaltungsgebäude, Personalwohnungen, eine Gärtnerei und Obstplantage und sogar eine Kirche. Tuberkulose – in den ärmeren Schichten jener Zeit die wohl häufigste Todes- und Invaliditätsursache – wurde vor allem durch frische und saubere Luft behandelt. Dafür wurden weitläufige Parks sowie seitlich offene Wandel- und Liegehallen angelegt. Wegen der Lage fernab der Stadt – auch die war den medizinischen Zwecken geschuldet – wurde ein modernes Heizkraftwerk vor Ort errichtet, das die Gebäude mit Dampf „zu Heizungs-, Bade-, Koch und Desinfektionszwecken“ versorgte, wie es in dem Buch heißt.

Bis zum Ersten Weltkrieg wurde die Anlage kontinuierlich erweitert, die Baukosten insgesamt werden in der Denkschrift auf 19 Millionen Reichsmark beziffert: Neben neuen Patientenunterkünften kamen auch Gebäude für Bäcker und Fleischer hinzu. Dort wurden allein 1926 über 30 000 Brote gebacken, beziehungsweise über 600 Rinder und Kälber und fast 1000 Schweine geschlachtet, wie es in der Denkschrift heißt. Letztendlich entstanden hier rund 60 Häuser mit insgesamt mehr als 1300 Betten – eine detailliert geplante Kleinstadt mitten im Wald. Während des Krieges wurden die Heilstätten zum Lazarett. Die Lebensmittelknappheit führte dann dazu, dass die LVA die Güter Breite und Blankensee erwarb. Für Investitionen fehlte in Zeiten der Depression und der Weltwirtschaftskrise das Geld. Erst 1929 wurde mit der Chirurgie das nächste Großprojekt in Angriff genommen.

Aus bauplanerischer, technischer, medizinischer und organisatorischer Sicht waren die Heilstätten ein Wunderwerk ihrer Zeit. Heute sorgt vor allem die Architektur der Gebäude mit ihren Fachwerken, Erkern, Risaliten, Arkaden und Kolonnaden für Staunen, wie der Berliner Architekturkritiker Gerwin Zohlen in der Einleitung des Buches erläutert. „All diese Opulenz, all dieser Überschuss war keineswegs für wohlhabende Bürger bestimmt, sondern für die einfache Bevölkerung.“ Und so seien die Heilstätten noch heute „ein Zeugnis des menschlichen Anstands im Umgang mit den Schwachen der Gesellschaft“, schreibt Zohlen.

Er kritisiert den Umgang mit dem baulichen Erbe nach dem Abzug der Roten Armee, welche die Heilstätten ab 1945 als Lazarett genutzt hatte, als tragische Farce. Die Landesversicherungsanstalt wollte es nicht mehr haben und verkaufte es, die Roland-Ernst-Gruppe habe zumindest für einen kurzen Frühling gesorgt, bevor sie in Insolvenz ging. Und die öffentlich-rechtlichen Gläubigerbanken hätten danach „offensichtlich alle einvernehmlichen Lösungen blockiert“. Und so verfallen die meisten Gebäude seit zehn Jahren.

Dass das erste „abgelaufene Vierteljahrundert“ keinen Abschluss für die Heilstätten bedeute, unterstrich die LVA 1927 in ihrer Denkschrift. Dies sei eine Perspektive, schreibt Bürgermeister Knuth, die heute sehnsüchtiger denn je erwartet werde.

Das Buch „Die Heilstätten der LVA Berlin“ ist für 24 Euro im Handel oder der Beelitzer Touristinfo, Poststr. 16, erhältlich.

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