ORTSTERMIN: Politik und Apfelschorle
Kleinmachnow - Nein, einen Stuhl braucht Hans-Christian Ströbele nicht. Nicht mit 73 Jahren und schon gar nicht, wenn er über Politik reden soll.
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Kleinmachnow - Nein, einen Stuhl braucht Hans-Christian Ströbele nicht. Nicht mit 73 Jahren und schon gar nicht, wenn er über Politik reden soll. Da reicht eine Tischkante und eine Apfelschorle, um mal eben den Bogen von der linksextremen Terrorgruppe RAF in den 70er-Jahren zum aktuellen Prozess gegen die rechtsextreme NSU zu schlagen. Friedens- und Antiatomkraftbewegung, Kosovo-Krieg und Finanzkrise bekommt er auch noch unter.
Quer durch ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte mit einem der dienstältesten Abgeordneten des Bundestages: Mittwochabend war das in den Kleinmachnower Neuen Kammerspielen möglich. In Ledertrenchcoat und rotem Schal präsentierte sich dort das Urgestein der Grünen, einer, der es nicht lassen kann. Im Herbst will sich Ströbele wieder zur Wahl stellen – weil er immer erfolgreich war und deshalb im Bundestag gegen die Fraktionslinie stimmen darf. Das habe ihm einst Joschka Fischer erlaubt. „Du wurdest gewählt, weil du dagegen bist, die anderen nicht“, habe der gesagt.
Ströbele plauderte munter aus dem politischen Nähkästchen. Schon als er noch gar nicht eingetroffen war: Da flimmerte auf der Leinwand vor den knapp 70 Gästen der Film „Die Anwälte“. Eine Dokumentation der Lebenswege der drei Juristen Ströbele, dem späteren SPD-Innenminister Otto Schily und dem heute in der rechten Szene aktiven Horst Mahler. Gemeinsam hatten Ströbele und Mahler 1969 das Sozialistische Anwaltskollektiv gegründet. Sie sahen sich auf der Seite der Unterdrückten, wollten eine andere Republik. Uneinig waren sie sich über den Weg.
Im Vergleich der Biographien scheint nur Ströbele sich treu geblieben zu sein. „Nur Idioten ändern sich nicht“, sagt hingegen Otto Schily im Film. Noch im Jahr 1972 verteidigen Ströbele und Schily gemeinsam den Angeklagten Mahler, der inzwischen der RAF nahestand. „Wir führten gegenüber der Macht das Argument des Rechts ins Feld“, sagt Schily vor der Kamera. Am Ende wanderte Horst Mahler in den Knast.
„Ich weiß, dass Horst Mahler in Kleinmachnow seinen Wohnsitz hat, wenn er nicht im Gefängnis ist“, sagte Ströbele bei einem Schluck Schorle. Gesprochen hat er ihn nicht mehr, gesehen zuletzt auf einer Nazi-Demo. Auch der Kontakt zu Schily sei selten geworden. „Es war nicht alles falsch, was wir gemacht haben“, sagte Ströbele.
Die Gesellschaft müsse noch heute verändert werden, der Kapitalismus werde sich sogar verändern müssen. Woher er in seinem Alter seinen politischen Optimismus schöpfe, wurde Ströbele von Kleinmachnowern gefragt. Die Zeit sei noch nie so reif für seine Ideen gewesen, antwortete Ströbele. Die Bundeswehr zieht sich aus Afghanistan zurück, Atomkraftwerke werden abgeschaltet und die CDU-Kanzlerin fordert eine Finanztransaktionssteuer. Unvorstellbar, dass er sich da vor den Fernseher setze. „Da will ich doch dabei sein.“ Tobias Reichelt
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