Potsdam-Mittelmark: Senioren in der Grauzone
Pflegeheim oder nicht? Die Senioren-WG „Villa Domizil“ in Wilhelmshorst ist ein Streitfall – unter 92 weiteren im Land
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Michendorf · Wilhelmshorst - Das Pflegeheim in bester Steglitzer Lage war renommiert und teuer. Aber nach vier Jahren hatte Gerda Thiel dort jeden Lebenswillen verloren. Auch wenn sie nach einem Schlaganfall stumm und halbseitig gelähmt war, merkte ihre Tochter Karola Anderson bald, das etwas nicht stimmte. „Meine Mutter bekam zu dünne Windeln, wurde nicht auf die Toilette gesetzt, nachts geweckt, nur um die Pflegestufe hochzukitzeln.“ Die Tochter schaltete die Heimaufsicht ein, die Suche nach Alternativen wurde von Berlin bald nach Brandenburg ausgedehnt. In Wilhelmshorst wurde man schließlich fündig. „Als meine Mutter über die Schwelle der Villa Domizil getreten war, drückte sie ganz fest meine Hand.“ In dieser Idylle wollte Gerda Thiel bleiben.
Heute ist die Seniorin 83 Jahre alt, braungebrannt und guter Laune. Ihr Kardiologe bescheinigt ihr ein „prima EKG“ und auch die Logopädin und der Ergotherapeut bestätigen, dass die Waldgemeinde der richtige Ort für sie ist. Nur 14 Senioren wohnen im denkmalgeschützten Haus An den Bergen 54. Betreiberin Ulla Begemann nennt es „Wohngemeinschaft“, ihre Bewohner „Herrschaften“ und sich selbst „Hausmutter“. „In Würde alt werden“ – in kleineren Einheiten ist es aus Begemanns Sicht viel einfacher zu gewährleisten. Ein liebevoll gedeckter Tisch, Seniorinnen, die sich an den Händen halten, die durch das Haus tollende Katze – Karola Anderson bestätigt der Betreiberin, dass sie ihre Sache gut macht.
Die familiäre Unterbringungsform greift in Brandenburg um sich: Donald Ilte, Leiter der brandenburgischen Heimaufsicht, kennt 92 ähnlich geartete Fälle im Land. Und viele weitere betreute Wohnformen sind der Heimaufsicht nicht einmal bekannt. An sich sei es ein „gutes Zeichen der Rechtsstaatlichkeit“, dass Menschen über ihre Betreuungsform im Alter selbst entscheiden, findet Ilte. Strittig ist, wieweit der staatliche Schutz greifen muss – die Bestimmungen des Heimgesetzes oder der Bauordnung. Die Grenzen sind umkämpft. In Oranienburg wurde ein solches Haus von der Bauaufsicht gegen das Veto der Heimaufsicht geräumt, weil man die Brandschutzauflagen nicht erfüllt sah. Aus Iltes Sicht muss die Kontrolle beginnen, wenn Menschen sich in institutionelle Abhängigkeit begeben, wenn Wohnen und Hilfe eine Einheit bilden, wenn kein Wahlrecht mehr zur Pflegefirma besteht. Im Fall der „Villa Domizil“ sei durch eine einflussreiche Angehörigenvertretung gewährleistet, dass die hier lebenden, teils dementen Senioren nicht allein gegen den Betreiber stehen. Karola Anderson leitet die Vertretung. Ilte meint, es handelt sich nicht um ein Heim – das hat er inzwischen auch schriftlich gegeben. Begleitung statt Kontrolle, so lautet hier sein Votum.
Die mittelmärkische Bauaufsicht sieht es etwas anders: „Hier sind Leute betroffen, die ihre Situation selbst nicht mehr einschätzen können“, sagt Fachdienstleiter Ulf Schilling. Es müssten deshalb ganz ähnliche Brandschutzauflagen wie für Pflegeheime gelten – angefangen von den Decken, die einen Feuerwiderstand von 90 statt der gemeinhin geforderten 30 Minuten haben müssten, bis hin zur Treppenbreite, die für den Transport Bettlägriger ausgelegt sein müsste.
Mangelhafter Brandschutz in Seniorenresidenz? Es ist kein Fall für Sensationsheischerei. Und in der Villa Domizil leben gar keine Bettlägrigen, wie Rechtsanwalt Ulrich Böcker vom Potsdamer Büro Spitzweg Partnerschaft versichert. Er vertritt die Betreiberin in dem Streit. Bei einem Gespräch gestern in Belzig kam man sich einige Schritte entgegen – jetzt soll geprüft werden, ob sich der Betrieb der Villa Domizil mit den aktuell geforderten Einbauten noch wirtschaftlich darstellen lässt.
Derselbe staatliche Schutz für Senioren-WGs und Pflegeheime? Die Zahl der Miniatureinrichtungen wird wachsen, prophezeit die Heimaufsicht. Es kommt vielleicht Licht in die gesetzliche Grauzone: Das Sozialministerium hat mit dem Bauministerium inzwischen eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich des Themas angenommen hat. Es geht um die Frage des vorbeugenden Brandschutzes in kleineren Betreuungsformen und darum, ob hier dieselben hohen Maßstäbe wir in Pflegeheimen mit 100 oder mehr Senioren anzulegen sind, in denen sämtliche Pflegestufen betreut und versorgt werden.
Karola Anderson will von solchen Heimen – für sie eine Mischung von „Kindergarten und Krankenhaus“ – nach ihren Erfahrungen nichts mehr wissen.Offenbar auch die Senioren in der Villa Domizil nicht mehr: Einer sagt, er legt sich auf die Schienen, wenn er hier weg muss.
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