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Potsdam-Mittelmark: Trauer frei von Hass

Der jüdische Grandseigneur Hans Keilson erinnerte sich gestern in Caputh ans Jüdische Landschulheim

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Schwielowsee · Caputh - Bäume sind gewachsen, der Dachturm abgebrannt, rundherum stehen plötzlich Häuser, neue Wände im Heim, im Essensaal Plakate aktueller Hollywood-Streifen. Und die Treppenstufen sind beschwerlicher. „Hier hat sich alles verändert, ich habe mich auch verändert“, sagt Hans Keilson. Nach über 70 Jahren war der jüdische Grandseigneur, Schrifsteller und Psychoanalytiker gestern erstmals wieder in Caputh. Von 1934 bis 1935 war er hier Lehrer im Jüdischen Landschulheim, heute Jugendhilfezentrum „Anne Frank“. Keilson hat märkische Wurzeln, ist Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Bad Freienwalde und überlebte die NS-Zeit – „ohne Waffen“ – im holländischen Untergrund. Er blieb in den Niederlanden.

Der 97-Jährige erhält heute in Potsdam die Moses-Mendelssohn-Medaille. Den Anlass wollte er nutzen, um nochmal nach Caputh zu schauen. Nach dem Medizinstudium hatte er 1934 wegen des gerade eingeführten Berufsverbots keine Möglichkeit, als Jude zu praktizieren. Er schlug sich bis zu seiner Emigration als Sport- und Musiklehrer durch, das Landschulheim war die erste Station dieser Lebensetappe. Viele Namen wurden gestern ausgetauscht: Gertrud Feyertag, Sophie Friedländer, Friedolin Friedmann, Ernst Ising Wer ist wie davongekommen, wohin emigriert, wie und wann verstorben? Trauer beschlich Keilson, was mit seinen Eltern und vielen anderen Opfern des Holocaust geschehen ist, eine Trauer frei von Groll. „Wir haben bei den Nazis erlebt, was Hass bewirken kann.“

Für Keilson war es in Caputh damals das erste Mal, nur mit Juden zusammen zu sein. „Ich kam aus einer Stadt, wo zwei, drei Jungen in meinem Alter Juden waren, hier in Caputh gab es ein jüdisches Milieu.“ Die Nazis hätten das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Juden stimuliert, das Jüdische Landschulheim – anfangs für schwererziehbare Kinder eingerichtet – wurde zur Rückzugsstätte, in die Eltern aus den unsicheren Städten ihre Kinder schickten, „unser eigenes Ghetto“, wie Keilson sagte.

Noch in der Unterprima in Bad Freienwalde hatte er „die erste traumatische Sequenz“ seines Lebens erlebt: Ein Deutschlehrer hatte mit der Klasse verabredet, dass jeder einen selbstgewählten Text vortrug. Keilson wählte Heinrich Heines „Schlesische Weber“. Der Klassensprecher protestierte: „Das Gedicht beschmutzt das eigene Nest“. „In der Folgezeit war ich im Klassenschiss, niemand sprach mehr mit mir.“

Lehrer und Kinder des Caputher Landschulheims waren nicht besser dran. „Es war schwierig, aber es schuf auch ein Band zwischen uns.“ Angenehm friedlich, gemütlich ging es zu, erinnert sich Keilson. Man fühlte sich sicher, das Dorf profitierte von dem Heim, auch wenn es keine engeren Kontakte gab. Zum Kinderheim wurden weitere Häuser, auch das Einsteinhaus, hinzugemietet. Das Gefühl des „nicht gefährlichen“ war auf Dauer trügerisch, die Geschichte ist bekannt: In der Pogromnacht wurde das Landschulheim 1938 von Einwohnern zerstört, Keilson war damals schon – den Warnungen seiner nichtjüdischen, ersten Frau folgend – in den Niederlanden.

Vom „Moses Mendelssohn Zentrum“ausgezeichnet wird Keilson heute vor allem für seine Verdienste um jüdische Waisenkinder, die durch den Holocaust traumatisiert wurden. Mit anderen jüdische Überlebenden hatte er nach dem Ende der Naziherrschaft zur Betreuung der Waisen die Organisation „Le Ezrat Ha Jeled“ (Zur Hilfe des Kindes) gegründet. Er therapierte über 200 traumatisierter jüdischer Waisen, die der Schoa entronnen waren und ihre Familien verloren hatten. Später veröffentlichte er eine Studie zur Traumatisierung bei Kindern.

Keilson reitet, wie er einmal sagte, auf zwei Pferden, der Literatur und der Wissenschaft. Er ist Autor von Romanen, Erzählungen, Gedichten über den Holocaust. Sein Lebenswerk ist nicht von Ressentiments geprägt, Keilson will heilen. Gestern in Caputh rezitierte er frei, tief und ohne Pathos aus einem Gedicht, das durch einen litauischen Lehrer des Landschulheims inspiriert war, der „ganz wunderbar singen konnte“. „Eine Stimme voll Ahnung und Traurigkeit, flackernd wie glühende Kohlen.“

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