KulTOUR: Träumereien eines Chirurgen
Zur „Kulinarischen Lesenacht“ in Kleinmachnow gab es Märchen, Pickelhaube und Milchreis
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Kleinmachnow - Das Tagwerk eines Chirurgen im Krieg ist gewiss nicht leichter als das Kämpfen im Felde. Richard von Volkmann war 1870/1871 als Arzt beim Feldzug gegen Frankreich dabei. Nach getaner Arbeit träumte sich der literarisch begabte Medicus Märchen herbei.
Der Kleinmachnower evangelischen Kirchengemeinde ist es zu verdanken, dass seine poetische und nachdenklich stimmende Märchensammlung „Träumereien an französischen Kaminen“ wieder ins Bewusstsein gerückt worden ist. „Kulinarische Lesenacht“ heißt die entsprechende Lesereihe, die in ihrem fünften Jahr im Jägerstieg 2 stattfindet. Eine erstklassige Erfindung von Diakon Martin Bindemann, der für die fantasievolle Ausschmückung solcher Anlässe fast schon ein bisschen berühmt ist; gerühmt in jeden Fall. So auch am Samstagabend: Ein Weihnachtsbaum in Festbeleuchtung, Kerzen im Fensterbereich und zwischen dem Gestühl, ein Bratenrock nebst Zylinder, ein Paar alte Koffer, im Vorraum ein Tisch mit Getränken, zwischen Säften und Wein eine Pickelhaube aus der Vorzeit, deutsches Original.
Wieder zurück an den Kamin: In den Träumereien Volkmanns spielt seine Geschichte „Der alte Koffer“ eine zentrale Rolle. Darin schleppt einen solchen ein alter Herr ständig mit sich herum. War er allein, öffnete er ihn mit einer geheimen Feder, entnahm ihm ein samten eingefasstes Kistchen, dem eine bezaubernde kleine Märchenfee entstieg. Sie nun war es, die ihm so schöne Sachen erzählte, aber immer nur bei verschlossener Tür! So wird es auch bei dem bedeutendsten deutschen Chirurgen des 19. Jahrhunderts gewesen sein. Von Volkmann (1830-1889) schrieb das „Geträumte“ auf, schickte es per Feldpost nach Hause, und als er selber heimkehrte, war alles bereits zu einem Büchlein gebunden. Allerdings veröffentlichte der chirurgische Feingeist sicherheitshalber unter dem Pseudonym Richard Leander. Das kleine Opus war derart erfolgreich, dass bereits 1910 die vierzigste Auflage erschien! Inzwischen dürften es noch mehr sein, das Buch ist auch heute noch erhältlich.
Nach der Lesung stand in Kleinmachnow Richard Leanders Leibspeise, ein Milchreis, auf dem Tisch – vom Diakon persönlich gekocht, süß oder herzhaft zu schmausen, da blieb kein Wunsch offen. Ein selbstgebastelter Papierkamin französischer Art en miniature am Ausgang erinnerte an einen Obolus für die Vorleserin, Eintritt, Essen und Trinken sind frei, die Kirchengemeinde und der allgemeine Spendenbeutel machen´s möglich. Es sind allgemeine Themen, die in der dunklen Winterzeit hier vorgelesen werden, fünfmal im Ganzen.
Vorn am Lesepult dieses Mal die Schauspielerin Susann Muhlack mit einfühlsamer Stimme und ihren C-Blockflöten. Sie las die Geschichte, wie einer auch ohne Wunschring glücklich wird und wie König nebst Königin nach schwerem Krach wieder zueinanderfinden, wenn jeder ein wenig zurücksteckt. Am schönsten war die Mär „Von Himmel und Hölle“, hier kam ein Armer und ein Reicher vor Petrussens Tor, und jeder konnte sich etwas wünschen. Der Reiche wünschte sich reich, und fand sich in der Hölle wieder, auch wenn da das Braten der Sünder in Kesseln gerade abgeschafft war. Doch auch ihm konnte zuletzt noch geholfen werden. Wer also konnte angesichts einer so liebevoll gestalteten Lesenacht noch daran zweifeln, dass es live allemal bildsamer ist als das Glotzen auf die matte Scheibe. Die nächste Lesenacht findet übrigens am 25. Januar im passend geschmückten Gotteshaus im Jägerstieg statt, gelesen wird Martin Walsers „Zimmerschlacht“. Gerold Paul
Gerold Paul
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