Potsdam-Mittelmark: Tunnelflucht und Mauerfotos
Vor 50 Jahren flüchtete der Kleinmachnower Andreas Springer in den Westen. Die Mauer lässt ihn seither nicht mehr los
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Kleinmachnow - Kurz nach neun war es, als der DJ die Musik unterbrach und bekannt gab: „Die Mauer ist offen!“ Andreas Springer erinnert sich noch genau an diesen 9. November vor 25 Jahren. Er saß im Zehlendorfer Restaurant „Eierschale“, hatte gerade das zweite Bier getrunken und anstatt sich über das eben Gehörte zu freuen, haderte er mit sich, denn seine Kamera lag zu Hause. Aber er widerstand der ersten spontanen Regung, einfach ins Auto zu steigen, die Kamera zu holen und zum Kontrollpunkt zu fahren. Seinen Führerschein wollte der freiberufliche Fotograf nicht riskieren. Am nächsten Morgen hatte er die ersten Bilder im Kasten und auch in den Tagen darauf zog es ihn immer wieder mit der Kamera an die Mauer. „Bruchstücke der Mauer“ ist der Titel der neuen Ausstellung im Kleinmachnower Rathaus, die einige dieser Fotodokumente von Andreas Springer zeigt. Wie im Zeitraffer sind die Bilder aufgereiht und erzählen von den ersten Besuchen, den Mauerspechten, die Bruchstücke aus dem Beton hacken, um sie als Souvenirs zu verkaufen, und den Grenzsoldaten, die verunsichert an der Mauer herumstehen und auf irgendetwas zu warten scheinen. Auf einem Bild ist ein „gefällter“ Wachturm zu sehen, ein anderes zeigt die ersten zusammmengekarrten Mauersegmente und dazwischen die Mauer als Aktionsfläche künstlerischer und politischer Äußerungen. Schaut Andreas Springer auf seine Bilder, läuft in seinem Kopf ein Film ab, auch die Geräusche aus der Umgebung hört er dann. „Ich erlebe die Bilder“, sagt er.
Als seine Familie Ende der Fünfzigerjahre nach Dreilinden, einem Ortsteil von Kleinmachnow, zog, war da noch keine Mauer. Immer wieder überschritt er in den Jahren darauf Normen, passte sich nicht an und als ihm ein Stasibeamter während eines Verhörs ins Gesicht sagte, dass es mit dem heiß ersehnten Grafikstudium nie etwas werde, war klar, dass er in diesem Land nicht bleiben wollte. Er lernte Werkzeugmacher im ZAT (Zähler- und Apparatebau Teltow). Gleich hinter dem Werk war der Teltowkanal. Einmal in der Mittagspause rollte auf der Westseite plötzlich ein amerikanischer Panzer an und ein GI bot lautstark an, alle die wollten, könnten jetzt rüberschwimmen, er würde ihnen den Weg freischießen. Aber Andreas Springer war klar, dass er hier sein Leben aufs Spiel setzen würde. Er dachte an seine Mutter und daran, dass er erst seine Lehre beenden wollte.
Von seinen Fluchtplänen erzählte Springer niemandem. Zwei Brüder, die bereits im Westen waren, hatten versprochen, ihn zu holen. Eines Tages teilten sie auf einer Karte mit, dass sie für ein teures Musikinstrument sparen würden. Andreas verstand: Es würde noch einige Zeit dauern. Im Sommer 1964 traf er sich einige Male mit einem Kurier in Berlin. Der gab ihm endlich am 5. Oktober das Codewort und den Ort der Schleusung: Strelitzer Straße 55. Seine „Natopelle“, einen Dederonmantel, der geräuschvoll knitterte, versteckte Springer in einem Park und lief los. Aber die Hausnummer 55 erkannte er nicht, lief in die 54. Dort machte er wie vereinbart Licht an, doch die beschriebene Treppe zum Hinterausgang gab es nicht. Sein Herz klopfte noch mehr als zuvor, er musste kühl überlegen und blieb eine Weile im Haus, damit der Grenzposten an der nächsten Ecke nicht Verdacht schöpfte. Es konnte nur die benachbarte Haustür sein, überlegte er. Einfach reingehen war zu riskant. Also ging er nach einiger Zeit wieder zurück. Damit der Posten ihn nicht wiedererkannte, fingerte er seine „Natopelle“ aus dem Gebüsch und strich mit Brunnenwasser seine Haare glatt. Diesmal landete er in der richtigen Tür, knipste Licht an, lief über die Hoftreppe und fand den beschriebenen Schuppen, dessen Tür sich öffnete. Ein Taschenlampenkegel traf ihn und jemand raunzte: „Was ist das denn für ein blöder lauter Mantel!“ Dann wurde er in ein schmales Loch geschoben und krabbelte rückwärts wie ein Käfer durch einen Gang.
Er brauchte nach seinem Tunnelausstieg noch eine ganze Weile, um fassen zu können, dass er nun im Westen war. 57 Menschen flohen bei dieser Massenflucht vor 50 Jahren vom 4. bis 5. Oktober durch den Tunnel, den Westberliner Studenten von der Bernauer Straße aus in 12 Metern Tiefe gegraben hatten. Ein Jahr später erfüllte sich Springers größter Wunsch: Er konnte an der Westberliner Hochschule der Künste studieren.
Kirsten Graulich
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