Potsdam-Mittelmark: Über die Grenzen der Pflicht
Das mittelmärkische Jugendamt nahm Stahnsdorfer Pflegeeltern die anvertrauten Kinder weg – jetzt wird gegen die Behörde wegen Körperverletzung ermittelt
Stand:
Stahnsdorf - Für Anna und Viktor* war es der Beginn eines ganz normalen Tages. Sie machten sich auf den Weg zur Schule, lernten und am Nachmittag wollten sie allein nach Hause gehen, so wie sie es seit einiger Zeit taten.
Doch die Geschichte des 9. November 2006 nahm einen anderen Verlauf. Ihr den Titel eines Missverständnisses zu geben, wäre deutlich untertrieben. Juristen, die sich später mit den Vorgängen des Tages beschäftigen werden, finden Attribute wie „ungeheuerlich“, „perfide“ und „skandalös“. Dass Mitarbeiter des mittelmärkischen Jugendamtes an diesem Tag Anna und Viktor aus der Schulen holten und dies den Lehrern mit dem „Verdacht des Kindesmissbrauchs in der Pflegefamilie“ begründeten, verkehrt sich in den Vorwurf des „Kidnapping im Amt“. Was ein amtlicher Vorgang sein sollte, ist heute ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Im Visier der Ermittler: Mitarbeiter des Jugendamtes und stellvertretend Landrat Lothar Koch sowie Mitarbeiter der Gemeinnützigen Gesellschaft für soziale Hilfe Berlin-Brandenburg.
Es ist eine Geschichte vom schmalen Grat zwischen amtlicher Aufsichtspflicht und staatlicher Willkür.
Anna (8) und Viktor (9) sind Pflegekinder. Die Geschwister waren zwei Jahre und acht Monate alt, als Elke Born und ihr inzwischen verstorbener Mann sie aufnahmen. Die leiblichen Eltern wurde wegen nachweislich schwerer Misshandlung eines der Kinder das Sorgerecht entzogen. Elke Born gilt als erfahrene Mutter, hat zwei eigene Kinder groß gezogen und eine Pflegetochter betreut, bis diese selbständig genug war, in ihre Herkunftsfamilie zurückzukehren.
Bis zum Tod ihres Mannes lebte die Beamtin mit den Pflegekindern in Berlin. Mit dem zuständigen Jugendamt gab es keine Probleme, die Verständigung zwischen dem amtlichen Vormund und den Pflegeeltern verlief reibungslos. Das änderte sich, als Elke Born im Frühjahr 2004 mit Anna und Viktor zu ihrem neuen Lebenspartner nach Stahnsdorf zog und somit auch die behördliche Zuständigkeit wechselte. Ansprechpartner ist seitdem das Jugendamt Potsdam-Mittelmark, deren Mitarbeiterin Bettina K. wird zum Vormund bestellt. Der Dialog mit dem Amt gestaltet sich schwierig. „Allein ein Jahr hat es für die Aktenübernahme gebraucht“, beklagt Elke Born. Das erste Jahr gab es überhaupt keinen Kontakt des Amtes zur Pflegefamilie und den Kindern, erst nach 18 Monaten fand der erste Hausbesuch statt. Die Gestaltung der neuen Pflegeverträge erwies sich als schwierig, man rieb sich an Formulierungen und Regularien auf. Der Dialog zwischen Vormund und Pflegeeltern war derart gestört, dass ein Mediator eingeschaltet werden musste.
Vor allem aber war man sich uneins über Besuchskontakte der leiblichen Eltern mit Anna und Viktor. Elke Born und ihr Lebensgefährte Uwe Fuchs wollten die Besuche minimieren, da sie merkten, dass die Begegnungen die Kinder belasteten und die schulische Entwicklung störten. Die Pflegeeltern stützten sich in ihrer Meinung auf Beiträge in der Fachliteratur, die sie zur eigenen Fortbildung lesen. So heißt es in der Fachzeitschrift für das Pflege- und Adoptivkinderwesen, dass bei traumatisierten Kindern „Besucherkontakte so lange auszuschließen sind, bis Eltern ihre (damalige) Erziehungsunfähigkeit anerkennen und sich beim Kind entschuldigen“. Elke Born hat im Vorfeld einer der Besuche die zuständige Sozialarbeiterin, die die Treffen der Kinder mit den leiblichen Eltern begleitete, daraufhingewiesen, dass die Frage für Viktor zunehmend an Bedeutung gewinnt, warum er und seine Schwester bei Pflegeeltern leben. Die pädagogische Leitung der sozialen Hilfsstelle, in der die Treffen stattfinden, entschied sich zunächst gegen ein solches Gespräch. Die leiblichen Eltern hätten zur Herausnahme ihrer Kinder eine „gegensätzlichen Wahrnehmung“, weshalb man offenbar Konflikte befürchtete, würde die Frage thematisiert werden.
Für Elke Born und Uwe Fuchs wurde der wachsende Loyalitätkonflikt indes zu einem unhaltbaren Zustand. Alle fünf Wochen trafen sich Anna und Viktor mit ihren leiblichen Eltern, „danach hatten wir tagelang apathische, sture und aufmüpfige Kinder“, so Elke Born. Auch Lehrer bestätigen, dass sich die Kinder nach den Treffen mit ihren leiblichen Eltern zunehmend auffällig verhielten. Um den Schulalltag nicht zu gefährden, bemühten sich die Pflegeeltern um eine neue Regelung der Besuchszeiten, sie wünschten sich weniger Kontakte. Eine Verständigung darüber mit Vormund Bettina K. sei jedoch unmöglich gewesen. „Sie hat gar nicht zugehört, wenn wir von unseren Beobachtungen berichten wollten“, sagt Elke Born. So schränkten die Pflegeeltern die Besuche selbst ein, ließen Kontakte fortan nur vierteljährlich zu. Dabei stützten sie sich auf eine Empfehlung der Schulpsychologin des Landkreises, längere Pausen zwischen die Treffen zu legen.
Vormund Bettina K. sah das anders. Die Jugendamtsmitarbeiterin unterstellte den Pflegeeltern egoistische Motive und riet indes den leiblichen Eltern, ihre Besuche einzuklagen. Daraufhin brach der Mediator seine Arbeit ab. Elke Born und Uwe Fuchs sahen das Vertrauen derart gestört, dass sie im September 2006 beim Jugendamt beantragten, Bettina K. als Vormund abzulösen. Die weilte bis 7. November im Urlaub.
Am 9. November erscheint Bettina K. in Begleitung zweier Mitarbeiter des Jugendamtes in Annas und Viktors Klassenzimmern und fordert die Kinder auf, ihre Sachen zu packen und mitzukommen. Der verdutzten und hilflosen Rektorin erklärt sie, „Gefahr sei in Verzug“: Man nehme „Kindesmissbrauch“ in der Pflegefamilie an. Auf Drängen der Schulleiterin schrieb sie diese Begründung auf einen Zettel. Hätte der Missbrauchsverdacht tatsächlich bestanden, hätte umgehend die Polizei informiert und gegen die Pflegeeltern Anzeige erstattet werden müssen. Beides ist nicht geschehen. Stattdessen wirft Bettina K. eine dreizeilige Notiz in den Briefkasten der Pflegeeltern, dass die Kinder wegen des vermuteten „Missbrauchs“ in Obhut genommen worden sind. Kein Telefonat, keine weiteren Erklärungen.
Hinter Paragraf 42 des Sozialgesetzbuches, auf den sich die Mitarbeiterin des Jugendamtes bezog, verbergen sich sexueller Missbrauch, extreme Vernachlässigung, körperliche Misshandlung. Schnell macht die Geschichte im Ort die Runde, Gerüchte kursieren, Spekulationen blühen.
Von der dürftigen Notiz in ihrem Postkasten nehmen Elke Born und Uwe Fuchs zunächst keine Kenntnis. Sie machen sich Sorgen, weil Anna und Viktor nicht wie gewohnt aus der Schule zurückkehren. Im Schulhort wird ihnen mitgeteilt, die Kinder seien bereits am Morgen abgeholt worden, von wem, dürfe man nicht sagen. Die Pflegeeltern erstatten eine Vermisstenanzeige bei der Polizei, erst dann finden sie im Briefkasten die Nachricht. Die folgenden Stunden und Tage werden zur einer Chronologie verzweifelter Versuche und Bemühungen, Anna und Viktor wenigsten zu sehen.Ein sofortiger Anruf im Jugendamt bleibt erfolglos. Keiner gab den Pflegeeltern Auskunft, wo die Kinder untergebracht sind. „All unsere Bemühungen im Verlaufe der Nacht, den Kindern wenigsten Kuscheltiere und Zahnbürsten zu bringen, scheiterten“, so Uwe Fuchs. Sie kontaktieren Anwälte, die gleich am nächsten Tag am Potsdamer Familiengericht und am Brandenburgischen Oberlandesgericht einen Eilantrag stellen, die Bekanntgabe des Aufenthaltsorts und die Herausgabe der Kinder zu veranlassen. Der Eilantrag wird abgelehnt. Einen Tag später senden die Pflegeeltern einen Hilferuf an Landrat Lothar Koch: „Bitte helfen Sie den Kindern!“ Gleichzeitig verfassen Elke Born und Uwe Fuchs eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die drei Jugendamtsmitarbeiter, die die Kinder aus der Schule holten. In ihrer Not und in der Hoffnung auf Hilfe schicken sie das Schreiben auch an den Bundespräsidenten, an die Bundesfamilienministerin, an Brandenburgs Regierungschef, an den Stahnsdorfer Bürgermeister und an die Leiterin des Landesjugendamtes.
Erst fünf Tage später kommt es zu einem Treffen mit Vormund Bettina K. und einem weiteren Mitarbeiter des Jugendamtes. Bei diesem Treffen wird deutlich, dass der Vorwurf des Kindesmissbrauchs nicht nur unzutreffend, sondern völlig auf Luft gegriffen war. Plötzlich war nicht mehr von einer Inobhut- sondern von einer Herausnahme die Rede, der Missbrauchsvorwurf sei nie gefallen. Das Wohl der Kinder sei dennoch gefährdet, weil die Pflegeeltern grundsätzlich nicht kooperativ seien und die Kinder überfordern würden. Auch einen Tag später, bei einem erneuten Treffen, bleibt das Amt hart: Bis zur inzwischen anberaumten Gerichtsverhandlung würden die Kinder nicht in die Pflegefamilie zurückkehren.
„Konflikte und Reibungen zwischen Behörden und Pflegepersonen kann es immer geben“, weiß Professor Johannes Münder vom Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin und Herausgeber des „Frankfurter Kommentars“ zur Kinder- und Jugendhilfe des Sozialgesetzbuches. Daher seien beide Parteien gefordert, Lösungen zu finden. In diesem Fall indes habe die Behörde „nicht nur rechtswidrig, sondern fachlich äußerst problematisch und unprofessionell“ gehandelt. Es müsse „schon lichterloh brennen, um Kinder aus dem Unterricht herauszuholen“ so Münder. In „unzulässiger“ Weise seien zwei unterschiedliche Aufgaben des Jugendamtes vermengt worden: einerseits Vormund und anderseits Kinderschutzbehörde zu sein. Münder attestiert dem Jugendamt ein strukturelles Problem: „Eigentlich dürfte die Person, die Amtsvormund ist, nicht mit Kinderschutzdingen befasst werden. Das müssen andere machen.“
Doch nicht nur der amtliche Auftritt im Klassenzimmer scheint von einem hohen Grad an Willkür geprägt, auch das nachträgliche Verhalten erscheint mehr als zweifelhaft. So hatten die Kinder keine Gelegenheit, eine Person ihres Vertrauens zu benennen. Und während die Pflegeeltern verzweifelt versuchten herauszufinden, wo die Kinder sind und wie es ihnen geht, erlaubte Vormund Bettina K. ein Treffen der leiblichen Eltern mit Anna und Viktor, was diese in einen weiteren Loyalitätskonflikt stürzte. Während es Elke Born und Uwe Fuchs verwehrt wurde, Nähe, Fürsorge, Verantwortung und Zuneigung zu zeigen, begegneten die Kinder in dieser dramatischen Situation ausgerechnet den Menschen, denen das Erziehungsrecht wegen Misshandlungen entzogen wurde. Dabei hatte das Jugendamt zuvor selbst erklärt, dass „aufgrund der frühkindlichen Erfahrung der Kinder eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie ausgeschlossen ist“.
Elf Tage wussten Elke Born und Uwe Fuchs nicht, wo sich ihre Kinder aufhielten. Bis zur Verhandlung am Familiengericht am 20. November. Die Richter fanden klare Worte: Selbst wenn die Befürchtungen des Jugendamtes zutreffen würden, dass die Pflegeeltern nicht zur Kooperation bereit seien und die getroffenen Besuchsregelung unterlaufen würden, sei die Herausnahme der Kinder völlig unverhältnismäßig gewesen. „Die Maßnahme des Jugendamtes führte nicht nur zum sofortigen Verlust des Lebensmittelpunktes der Kinder, ihrer Vertrauenspersonen, ihrer gewohnten Umgebung“, befand das Gericht. Weiter heißt es: „Die Herausnahme der Kinder durch den Vormund verstößt nicht nur gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, die damit verbundenen Nachteile für die Kinder lassen um deren geistiges und seelisches Wohlbefinden fürchten.“ Das Gericht ordnete die „sofortige Rückführung“ der Kinder in den Haushalt der Pflegefamilie an. Zudem regte es einen Wechsel des Amtsvormundes an, „im Interesse beider Kinder das gestörte Vertrauensverhältnis wieder herzustellen“.
Unmittelbar nach der Verhandlung wurden Vormund Bettina K. und der an dem Vorgang mitverantwortliche Sozialarbeiter des Jugendamtes von dem Fall entbunden. „Im Übrigen“, so teilt Landrat Lothar Koch den Pflegeeltern später mit, habe man „Vorkehrungen getroffen, um ähnliche Vorkommnisse in Zukunft zu vermeiden“. Da sich das Vorgehen in dem konkreten Fall als „unangemessen und rechtswidrig erwiesen hat“, entschuldigte sich der Landrat bei den Pflegeeltern.
Doch für die ist der Fall damit nicht erledigt. Zu groß waren die seelischen und körperlichen Schmerzen während der Tage der Ungewissheit, der Anschuldigungen und Verdächtigungen, als dass der Fall mit einer Entschuldigung zu den Akten gelegt werden könne. Anna und Viktor seien durch das Vorgehen erneut traumatisiert, so dass sie in ärztliche und therapeutische Behandlung mussten. „So etwas darf nicht mehr passieren“, befanden die Pflegeeltern und stellten Strafanzeige wegen vorsätzlicher bzw. fahrlässiger Körperverletzung, Nötigung, Freiheitsberaubung, Verletzung der Fürsorgepflicht, falscher Verdächtigung und Verleumdung. Staatsanwalt Christoph Lange bestätigt, dass inzwischen ein Ermittlungsverfahren u.a. wegen „Körperverletzung im Amt“ eingeleitet wurde.
Im Landratsamt zieht man sich mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen auf eine Position des Schweigens zurück. Disziplinarische Schritte gegen seine Mitarbeiter hat Landrat Koch bislang abgelehnt. „Ausschlaggebend für ihr Tun war die aus ihrer Sicht bestehende Sorge um das Wohl der Kinder“, so der Versuch seiner Erklärung.
Sozialpädagoge Münder hat eine andere Sicht auf die Dinge. „Ich hätte nie gedacht, dass ein Amtsvormund die Amtsmacht benutzt, um einen Konflikt mit den Pflegeeltern zu lösen“. Die ohnehin schwierige Situation der Kinder dadurch zu verschärfen, „ist unverantwortlich“.
*Namen geändert
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