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Kunst in Moll: Der Norweger Ask Holmen ist Teil seiner Installation.

© Thomas Lähns

Potsdam-Mittelmark: Von der Kunst, ein Tier zu jagen

Staunen, lachen, träumen: Europäische Kunstaustausch-Akademie lädt am Wochenende nach Beelitz

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Beelitz - Lin Gerritse ist zu einer bitteren Erkenntnis gelangt: Wenn die Zivilisation morgen endet, würde er jämmerlich verhungern. Eine Woche lang war der 24-jährige Niederländer in den Wäldern in Beelitz-Heilstätten unterwegs, um etwas Essbares zu fangen. Er hat Fallen konstruiert, Waffen gebastelt und stundenlang wilden Tieren von einem Verschlag aus Ästen und Zweigen aus aufgelauert. Das einzige, was er erwischte, war ein Igel. „Den habe ich natürlich wieder in die Freiheit entlassen“, beruhigt er. 

Gerritse hat es im Rahmen der jährlichen Europäischen Kunstaustausch-Akademie nach Beelitz verschlagen. Seit dem 10. August sind 36 kreative Köpfe aus 18 Nationen wieder in der früheren Männer-Lungenheilanstalt am Werk. Sie malen, filmen, bildhauern und bauen Installationen. Das Umfeld ist ideal: Die Anfang des 20. Jahrhunderts errichteten zum Teil verfallenen Klinikgebäude von Heilstätten sind selbst ein Kunstwerk, an dem die Natur über Jahrzehnte mitgestrickt hat. Sie bieten Inspiration en gros. Am kommenden Wochenende öffnen die Künstler ihre provisorischen Ateliers für Besucher.

Dass Lin, ein sympathischer Heranwachsender mit Bärtchen und Wuschelmähne, tatsächlich einem niedlichen Hasen das Fell über die Ohren ziehen würde, darf man getrost bezweifeln. Es ging ihm um den Feldversuch, der zeigen sollte, wie sehr sich der Mensch von der Natur entfernt hat. Es gibt Leute, die auf Jäger schimpfen und gleichzeitig genüsslich in einen Hamburger beißen, sagt er.

Seine provisorischen Jagdmittel hat er in einem großen Raum des alten Klinikgebäudes aufgebaut. Darunter ist eine primitive Falle: Eine Kiepe, die umgedreht auf einem Stock steht. Der wird per Schnur weggezogen, falls sich tatsächlich ein Tier darunter verirrt. Er hat Blasrohr, Angel und Jagdspieß gebastelt und ausgestellt, aber all das tauge nichts, wie er achselzuckend bekennt. Näheres erfährt man in seinem Tagebuch, das er verfasst hat.

Die über das Jahr ungenutzte Lungenheilstätte ist in den vergangenen Wochen zum Panoptikum geworden: Hinter jeder Tür befindet sich etwas, das den Betrachter staunen, schmunzeln oder träumen lässt. Der Norweger Ask Holmen, ebenfalls 24, hat in seinem Raum aus alten Balken und Brettern ein intimes Kämmerlein geschaffen. Das Fenster geht raus ins spätsommerliche Grün, aber die Sonne, die durch die dreckige Scheibe dringt, sorgt für melancholisches Zwielicht. Holmen setzt sich mit der E-Gitarre hinein und spielt dazu ein paar Riffs.

Er ist das erste Mal dabei, sagt der junge Kunststudent, und er sei überwältigt von Beelitz-Heilstätten und seiner Umgebung. Diese Einschätzung teilen hier viele: Einen Raum weiter ist der Franzose Olivier Bouchon Kersten dabei, die rissigen Wände mit großen Pflasterstreifen zu versehen. „Ich will diesen Raum heilen“, sagt er. Der hat das – wie die anderen Ruinen auf Brandenburgs größtem Flächendenkmal – auch dringend nötig: Die letzten, die hier gelebt haben, waren Soldaten der Roten Armee gewesen. Bis 1994 nutzten sie Beelitz-Heilstätten als Lazarett, seitdem stehen viele Gebäude leer und sind dem Verfall preisgegeben. Ob da ein paar Pflaster helfen? „Alles ist eine Frage des Glaubens“, sagt der Franzose.

Am Ende des Gangs ist ein Gitter angebracht, dahinter logierten früher die Offiziere. Heute hat die Britin Claire Dearnley einen der Räume in Beschlag genommen. Sie lässt Shakespeare-Bände von der Decke baumeln. In den Boden installiert sie Lautsprecher, aus denen dann Tonaufnahmen ihrer Mitstudenten kommen. Sie haben sich an einer Lesung versucht und schon die deutsche Sprache sei eine Herausforderung gewesen – aber die Frakturschrift hat es dann fast unmöglich gemacht. Das Unmögliche zu erreichen – oder zumindest zu versuchen: Das zieht sich dieser Tage wie ein roter Faden durch die Gänge der Heilanstalt.

Thomas Lähns

Ausstellung am Samstag 15 bis 18 und am Sonntag 10 bis 17 Uhr in der Dr. Herrmann-Straße, Gebäude B3. Eintritt ist frei.

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