KulTOUR: Von der Seele schreiben
Kathrin Schmidt und eine wunderbare Rekonvaleszenz
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Michendorf - Was man sich „von der Seele schreibt“, das gerät meist am besten. Schreibend arbeitete sich einst Michail Sostschenko nicht nur aus seiner schweren Neurose heraus, er fand sogar zum „Schlüssel des Glücks“.
Auch Kathrin Schmidt konnte eine schwere Lebenskrise solcherart hinter sich bringen, nur so den Verlust geregelter Motorik, des Erinnerns, der Sprache nach einem Schlaganfall wieder aufhebend. Ins Peter-Huchel-Haus kam sie jüngst aber nicht mit dem 2009 preisgekrönten Dokument ihrer Erneuerungskraft, dem Roman „Du stirbst nicht“, sondern mit Gedichten über blinde Bienen und einem ganz neuen Text, welcher ihre wunderbare Rekonvaleszenz noch einmal in Spuren spiegelt. Er entstand voriges Jahr bei ihrem Aufenthalt in Roms Villa Massimo, schildert vorderhand aber einen Badeurlaub in der Türkei mit Mann und Sohn. Als Lektüre hat sie Bettina von Arnims Buch über die Günderode dabei. Indem sie deren „Befindlichkeit“ mit ihrer Situation vergleicht, Bettinas Gestern, jener Frau Sonnen- und Reisehunger, mit dem ihren, findet sie ein Stück mehr zu sich selbst. Mit dem Ehemann an ihrer Seite gibt es in der Echtzeit des Textes so gut wie keine Verständigung, nur Stille, wie bei der Amnesie. Am Ende des noch unveröffentlichten Textes sagt ihr Kopf „Du zu sich“ und „erst einmal schreibe ich dir“!
Das Besondere dieser raffinierten Prosa konnten die Hörer allerdings nicht erkennen. Kathrin Schmidt nahm sich von Bettina ein Zitat, an dem sie ihren Text orientierte. Jedes Wort der Altvorderen erscheint in Schmidts Text, und zwar fett markiert. So hangelt sich eine der anderen zu, und aus zweien wird Eins. Ziemlich clever. Die Sache mit ihrem Mann, mit dem sie mehr als dreißig Jahre verheiratet ist, erklärt sich so. In „Du sagen. Dir schreiben“ erkannte er sich sofort wieder, während sie ihn beim Schreiben gar nicht vor Augen hatte. Solchen Kapricen geht sie jetzt aus dem Weg, indem sie ihm ihre Bücher, die er auch gar nicht so mag, erst gedruckt in die Hand gibt. Das arbeitsteilige Familienschicksal einer Schriftstellerin – und fünffachen Mutter.
Der Literaturwissenschaftler und Abendmoderator Michael Opitz versuchte, ihr mit der leisen Stimme eines gelernten Therapeuten ein paar Schaffensgeheimnisse zu entreißen, aber diese Art von Gespräch war nicht so spannend. Gab es denn keine wichtigeren Themen bei jemanden, der das Erinnern und die existentielle Sprache völlig neu erlernen musste? Durch ihr Geschick waren ja Vita und Curriculum dichter als sonst üblich zusammengerückt. Es führte die spätere Kinderpsychologin Ende der fünfziger Jahre aus ihrer Geburtsstadt Gotha immer weiter in die Welt hinaus; oder hinein? Vorbei am Runden Tisch in Berlin 1990 immer mehr zur Literatur, Richtung Rom, Richtung Sonne und Richtung Pampylien, wie sie das Land bei Antalya achtungsvoll nennt.
Und die „Blinden Bienen“ von 2010? Auch hier ging es zuerst um die Vergewisserung, ob die Autorin, wie in den frühen Jahren, noch oder wieder Gedichte machen könne. Auch ihnen gilt ja dieses geheimnisvolle „Du sagen. Dir schreiben“. Sie kann. Auch wenn ihre Lyrik augenscheinlich eher wie Prosa aussieht. Sterbend taumeln die Bienen im Herbst. Sie sind blind, aber sie sprechen im „Wir“. Sie ist „Häftling im Du“, sie ist Nesthocker bei sich daheim in einem Rahmen aus Luft aus der Kindheit: Jedes Dasein ist exemplarisch. Auch dieses.
Gerold Paul
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