zum Hauptinhalt
Die traditionelle Unterkunft der Afar-Nomaden in der Danakil-Senke in Äthiopien wird als „Aris“ oder „Dahaboyta“ bezeichnet. Diese Unterkünfte sind speziell an das heiße und trockene Klima der Region angepasst.

© imago images/GFC Collection

Sind wir wirklich „nur“ 8,2 Milliarden?: Warum die Weltbevölkerung größer sein könnte als gedacht

Eine aktuelle Studie zeigt, dass globale Bevölkerungszahlen systematisch unterschätzt werden – in einigen Regionen um bis zu 84 Prozent. Wie konnte das passieren?

Von Annett Stein

Stand:

Auf der Erde könnten einer Studie zufolge weitaus mehr Menschen leben als nach gängigen Schätzungen angenommen. Ein erheblicher Teil der Landbevölkerung fehle in globalen Bevölkerungsdaten, berichtet ein Forscherteam im Fachjournal „Nature Communications“.

Auffällige Diskrepanzen gibt es demnach zum Beispiel in China, Brasilien, Australien, Polen und Kolumbien. Da nach derzeitigen Schätzungen 43 Prozent der weltweit 8,2 Milliarden Menschen in ländlichen Gebieten lebten, hätten die neuen Erkenntnisse weitreichende Konsequenzen.

Schätzungen zur Weltbevölkerung, wie sie etwa von den Vereinten Nationen und der Weltbank genutzt werden, basieren vorwiegend auf Volkszählungen, aber zum Beispiel auch auf Satellitenbildern, die über Bebauung und nächtliche Beleuchtung Aufschluss geben. Verstreute Weiler und Dörfer seien auf solchen Aufnahmen oft kaum oder gar nicht zu erkennen, heißt es in der Studie.

Erfassung auf dem Land oft besonders schwierig

Nicht alle Länder verfügen über die Ressourcen für eine präzise Datenerhebung, gerade ländliche Regionen mit weit verstreut lebender Bevölkerung sind oft schwer zu erfassen, geben die Forscher um Josias Láng-Ritter von der Aalto-Universität in Helsinki zu bedenken.

Mitunter erschwerten auch Konflikte die Zählung oder es gebe Widerstand gegen die Teilnahme. „Solche Herausforderungen können zu einer erheblichen Unvollständigkeit der Zählung führen. In Paraguay zum Beispiel wurde bei der Volkszählung 2012 möglicherweise ein Viertel der Bevölkerung nicht erfasst.“

43
Prozent der 8,2 Milliarden Menschen leben laut der Forschungsgruppe der Aalto-Universität in Helsinki in ländlichen Gebieten.

Das Team um Láng-Ritter nutzte nun Umsiedlungsdaten aus Staudammprojekten für eine Überprüfung. „Wenn Staudämme gebaut werden, werden große Gebiete überflutet und die Menschen müssen umgesiedelt werden“, erklärte der Forscher. „Die umgesiedelte Bevölkerung wird in der Regel genau gezählt, weil die Staudammunternehmen den Betroffenen Entschädigungen zahlen.“

Die Karte zeigt, wo sich die 307 untersuchten ländlichen Gebiete befinden. Laut der Grafik wurden die Bevölkerungszahlen um 53 bis 84 Prozent unterschätzt.

© Josias Láng-Ritter et. Al / Aalto University

Ländliche Regionen werden benachteiligt

Diese vor Ort durchgeführten Bevölkerungszählungen seien mit räumlichen Informationen aus Satellitenbildern kombiniert worden. Berücksichtigt wurden mehr als 300 ländliche Staudammprojekte in 35 Ländern. Die erhaltenen Werte verglichen die Forscher mit denen aus den fünf am häufigsten verwendeten globalen Bevölkerungsdatensätzen.

Die darin angegeben Bevölkerungszahlen unterschätzten die tatsächliche Zahl demnach um 53 (Datensatz WorldPop) bis 84 Prozent (GHS-POP). „Dies bedeutet, dass die ländliche Bevölkerung selbst im genauesten Datensatz im Vergleich zu den gemeldeten Zahlen um die Hälfte unterschätzt wird.“

Für alle fünf untersuchten Datensätze wurden nur systematische Unterschätzungen gefunden. Ländliche Regionen seien infolgedessen beim Zugang zu Dienstleistungen, Ressourcen und Entwicklungschancen wahrscheinlich immer wieder benachteiligt worden, schließen die Forscher.

Verzerrung nach wie vor vorhanden

Die Studie konzentrierte sich auf Bevölkerungskarten für den Zeitraum von 1975 bis 2010, da für spätere Jahre keine Staudammdaten vorlagen, wie die Forscher erläutern. Die Genauigkeit der Karten habe sich im Laufe der Jahrzehnte etwas verbessert, es sei aber anzunehmen, dass die neuesten Daten immer noch einen Teil der Weltbevölkerung übersehen. „Es ist unwahrscheinlich, dass eine geringfügige Verbesserung der Eingabedaten dieses Ausmaß an Verzerrung korrigieren könnte, wenn dieselben grundlegenden Verfahren angewandt werden“, sagte Láng-Ritter.

Die Kulturlandschaft Konso im Südwesten Äthiopiens. Sie gehört zum UNESCO-Welterbe und ist etwa 400 Jahre alt. Die Konso-Gemeinschaft hat ihre Siedlungsformen und sozialen Strukturen über mehrere Jahrhunderte entwickelt und erhalten.

© IMAGO/YAY Images

„Die von uns festgestellten Verzerrungen erfordern eine kritische Diskussion über vergangene und künftige Anwendungen dieser Datensätze, um das Risiko zu mindern, dass ländliche Bevölkerungsgruppen systematische Nachteile bei der Zuweisung von Ressourcen und Dienstleistungen erfahren“, so die Forscher.

Die Datensätze seien in Tausenden von Studien verwendet worden und hätten in hohem Maße zur Entscheidungsfindung beigetragen, etwa bei der Ressourcenzuteilung, Gesundheitsversorgung und Planung von Infrastruktur, sagte Láng-Ritter.

Ohne grundlegende Überprüfung drohe das auch weiterhin der Fall zu sein. Es gehe um Fragen wie: Brauchen wir dort ein Krankenhaus? Wie viele Medikamente werden in dem Gebiet benötigt? Wie viele Menschen könnten dort von Naturkatastrophen betroffen sein?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })