zum Hauptinhalt
Er fliegt und fliegt und fliegt. Aber ob Tim Wiese seine Trainingsleistungen auch aufs Spiel der Nationalmannschaft übertragen darf, ist immer noch ungewiss.

© dpa

Nationalmannschaft: Am Ende der Torstange

Im Kampf um die Nummer eins muss Tim Wiese wohl Manuel Neuer und Hans-Jörg Butt den Vortritt lassen. Ihm fehlen prominente Fürsprecher.

Tim Wiese hat es sich auf der Terrasse des Mannschaftshotels bequem gemacht. Fast könnte man meinen, der Torhüter lümmele in seinem Korbstuhl. Bei Wiese funktioniert vieles über Äußerlichkeiten. Einiges davon ist dem Bremer in der Öffentlichkeit negativ ausgelegt worden. Ob es seine grellen Trikots waren, seine massiv gegelten Haare oder sein posenhaftes Torwartspiel. Vergessen wurde dabei, dass Tim Wiese ein wirklich guter Torwart ist.

„Ich weiß, was ich kann“, sagt der 28-Jährige und dreht seine schwere Uhr am Handgelenk zurecht. Klar achte er auf sein Äußeres. Das täten doch alle Menschen, die wie Fußballprofis in der Öffentlichkeit stehen. Schon wieder so eine Ungerechtigkeit? „Ich kann das ab“, sagt Wiese. Und überhaupt: „Man darf keine Scheu, keine Zweifel haben.“ Eigentlich ist Wiese gerade dabei, sein Torwartspiel zu charakterisieren. Doch was er sagt, könnte auch eine Anleitung für sein Leben außerhalb des Strafraums sein. „Man muss mutig in die Situationen reingehen. Wenn man zurückzieht, hat man schon verloren, immer aggressiv“, sagt Wiese. Klar wolle er jetzt auch im deutschen WM-Tor stehen, aber ob er eine reelle Chance bekommt? Die Öffentlichkeit hat sich längst ihre Meinung gebildet. Es geht nur darum, ob Manuel Neuer oder Jörg Butt die Nummer eins werden. „Ich will hier noch mal Vollgas geben“, sagt Wiese und richtet sich in seinem Stuhl auf. Am Ende wolle er zumindest sagen können: „Ich habe alles getan dafür. Wenn es nicht klappt, dann habe ich Pech gehabt.“

Manuel Neuer hat Glück. Bevor Wiese mit seinen Bremern zur Nationalelf ins Trainingslager auf Sizilien stieß, waren vier Tage vergangen, an denen der lange Blonde vom FC Schalke die Aufmerksamkeit für sich hatte. Mit seinen 24 Jahren ist Neuer der jüngste der drei Kandidaten. Wiese hatte mit Werder noch das Pokalfinale bestreiten müssen. Hans-Jörg Butt wird erst am morgigen Mittwoch beim Nationalteam erwartet, das längst nach Südtirol weitergezogen ist. Trotz des verloren gegangenen Champions-League-Finals gilt der 35-Jährige vom FC Bayern als Geheimfavorit; auch im Endspiel von Madrid überzeugte er mit guten Paraden.

Überhaupt Butt. Er verfügt über Turniererfahrung. Butt war schon bei der EM 2000 sowie bei der WM 2002 als jeweils dritter Torwart hinter Oliver Kahn und Jens Lehmann dabei. Er ist nicht zum Einsatz gekommen, hatte sich aber loyal in sein Schicksal gefügt. Würde er es aber jetzt wieder tun?

Dabei war der 35-Jährige erst nach dem WM-Ausfall des Leverkuseners René Adler ins Spiel gekommen. Nun könnte er von Adlers Verletzung profitieren. „Jörg Butt hat seine Qualitäten nachgewiesen“, sagt Löw. Bei der Benennung seines vorläufigen WM-Kaders hatte der Bundestrainer keinen definitiven WM- Torwart ausgerufen. Diese Unterlassung führte der deutschen Fußballnation vor Augen, was sie eigentlich nicht sehen wollte: Sie hat immer noch ein Torwartproblem. Genau genommen gibt es dieses Problem seit der EM 2008. Nach dem Rücktritt von Jens Lehmann (auf freundliches Geheiß des Bundestrainers), hat sich keiner der Kandidaten als natürlicher Nachfolger empfohlen.

Zwar galt Robert Enke aus Hannover zwischenzeitlich als aussichtsreichster Kandidat, doch restlos überzeugt waren Löw und Köpke nie. Zumal Enke, der, wie sich später herausstellte, an schweren Depressionen litt und den Freitod wählte, einige wichtige Spiele nicht bestreiten konnte. Für ihn spielte Adler. Doch selbst mit dessen Ernennung zur Nummer eins im März 2010 war die Hierarchie im deutschen Tor nicht in Stein gemeißelt. Eine Entscheidung in der Torwartfrage wird nun in den kommenden Tagen erwartet. Inzwischen hat der Bundestrainer nämlich seine Entscheidungsfindung für beendet erklärt. „Wir im Trainerteam haben uns Gedanken gemacht und sind uns einig geworden.“ Aus Gründen des Anstandes möchte Löw mit der Bekanntgabe seiner Entscheidung warten, bis „die Gruppe vollzählig“ ist. Das wird spätestens am Mittwoch der Fall sein, wenn auch die Spieler des FC Bayern zur Nationalelf gestoßen sind. Löw möchte erst noch mit den betreffenden Akteuren reden, anschließend wird er die Mannschaft und dann die Öffentlichkeit informieren. Dazu wird Löw neben der Torwartfrage auch die Frage beantworten, wer die Mannschaft anstelle des verletzten Michael Ballack als Kapitän anführen wird. Manuel Neuer erwartet jedenfalls, dass der Bundestrainer vor dem Länderspiel am kommenden Samstag in Ungarn seine Entscheidungen mitteilt. „Es ist wichtig, dass der Torhüter in den beiden Testspielen spielt, der auch in Südafrika spielt“, sagt der Schalker. Das abschließende Testländerspiel findet am 3. Juni in Frankfurt am Main gegen Bosnien-Herzegowina statt. Löw sagt: „Derjenige, der bei der WM die Nummer 1 trägt, wird in beiden Testspielen im Tor stehen.“

In den vergangenen Tagen versuchte Löw immer wieder, der offenen Torwartfrage die Brisanz zu nehmen. „Grundsätzlich muss man sagen, dass wir auf dieser Position sehr stark besetzt sind“, sagte Löw. „Man hat bei allen Dreien das Gefühl, dass man ihnen vertrauen kann.“

Wenn es nach Oliver Kahn ginge, würde die Entscheidung zwischen Neuer und Wiese fallen. Butt habe zwar eine „Super-Saison“ gespielt, aber Neuer und Wiese wären schließlich die Torhüter, die auch in den letzten ein, zwei Jahren dabei gewesen sind. Allerdings seien beiden trotz zum Teil überragender Leistungen auch Wackler unterlaufen, was Kahn im Falle Neuers am ehesten entschuldigte: „Das ist aber bei einem jungen Torhüter völlig normal.“ Für Franz Beckenbauer ist die Sache eigentlich immer schon klar gewesen. Er sieht Neuer als Nummer eins: „Vorher hieß es Adler oder Neuer, da ist es logisch, dass Neuer es jetzt wird“, sagte der ehemalige Teamchef. Wenn Löw aber mit einer erfolgreichen Bayern-Achse spielen wolle, dann „müsste Butt im Tor stehen“. Das meinte Beckenbauer durchaus ernst.

Nur für Tim Wiese stehen die Chancen nicht gut. Ihm fehlen prominente Fürsprecher. Wiese sagt: „Ich muss keine Werbung in eigener Person machen, das habe ich in den vergangenen Jahren genug gemacht bei Werder Bremen.“ Jetzt wolle er hart trainieren. Auf die Frage, was er noch tun könne, antwortet er: „Mein Bestes geben, Bälle halten!“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false