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Dem Titel so nah: Aus der Tiefe des Traumes

Für das deutsche Team ist nun der Weltmeistertitel das Ziel. Auch wenn im Halbfinale mit Thomas Müller die Seele des neuen deutschen Fußballs wegen seiner Gelbsperre fehlen wird.

Als Oliver Bierhoff nach langen Bitten gerade dabei war, dem spanischen Fernsehen das neue deutsche Wunder zu erklären, da schlängelte hinter seinem Rücken Thomas Müller mit immer noch weit aufgerissenen Augen durch die Mixed Zone. Hier im Stadionkeller, wo Spieler und Journalisten aufeinander treffen, hatten alle einen traurigen Helden erwartet, einen, der zwar der deutschen Nationalelf den Weg ins Halbfinale gegen Spanien geebnet hatte, aber eben doch zum Zuschauen verdammt sein wird. Was aber machte Müller? Müller machte Mut. Dieser 20-jährige Bursche ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass er noch einmal zum Einsatz kommen werde bei dieser WM. Und auch wenn er es nicht ausdrücklich so sagte, er meinte damit nicht das Spiel um Platz drei, das Match der Halbfinalverlierer.

„Jetzt müssen wir wieder Kräfte sammeln, um das große Ziel zu erreichen“, sagte Oliver Bierhoff. Der 42-Jährige wirkte angefasst, ergriffen vom Moment großer Freude und großen Glücks. „Wir haben an die Mannschaft geglaubt, und die Mannschaft hat an unsere Arbeit geglaubt“, sagte Bierhoff. „Aber dass sie das so umsetzt, das haben wir nicht erwartet – mein größtes Kompliment.“

Bereits nach dem famosen Englandspiel war der deutschen Mannschaft ein großer Empfang in der Heimat sicher. Aber noch einmal konnte sie sich steigern. Und nun? Jetzt geht es um alles, jetzt soll der Titel her. „Alles andere wäre ja zu diesem Zeitpunkt nicht vermittelbar“, sagte Bierhoff. Nicht, wenn man so nah dran ist, und erst recht nicht, wenn man Argentinien mal eben 4:0 vom Feld geräumt hat. „Das war begeisternd“, sagte Bierhoff und blickte dabei dem vorbeihuschenden Müller hinterher. Die Botschaft lautete: Jetzt ist alles möglich!

Wer soll diese deutsche Mannschaft noch aufhalten? Die Spanier? Wenn überhaupt, dann am ehesten vielleicht Thomas Müller. Er wird am Mittwoch fehlen. Für Müller ist es traurig, hoffentlich wird es nicht tragisch für die Mannschaft.

Thomas Müller ist für diese Mannschaft mehr als nur ein talentierter Spieler, der einen Lauf erwischt hat und ein Tor ans andere reiht. Wie zum Beispiel das blitzschnelle zur Führung gegen Argentinien. Es sind andere Szenen, die über Müllers Wert Auskunft geben. Wie jene gegen Mitte der zweiten Halbzeit, als er in der schwierigsten Spielphase für die Deutschen den entscheidenden Pass auf Podolski gab, der wiederum Klose das 2:0 in den Fuß legte. Halb im Sitzen, halb im Liegen verlieh Müller dem Ball den nötigen Dreh.

Vor vielen, vielen Jahren hatte Deutschland mal einen Spieler, der genau auf diese Art und Weise seine Tore erzielte: Gerd Müller, der bis heute unerreichte Bomber der Nation. Jetzt hat das Land wieder einen Müller, Thomas Müller. Und es gibt keinen anderen Spieler, dem das Müller und die 13 auf dem Trikotrücken besser stehen würden als dem jungen Münchner.

Denn diese eine Szene erzählt mehr, als zu sehen war. Sie zeigt den Charakter, den Willen, das Einfallsreiche, ja das Unwiderstehliche der neuen Generation. Vor allem aber legt sie die Seele des Spiels der Deutschen frei.

Denn jene Szene trug sich zu, als Müller längst die Gelbe Karte gesehen hatte. „Ich habe gewusst, was los ist. Dass ich gesperrt bin, das war natürlich ein bitterer Moment“, sagte Müller hinterher: „Ich habe mich eine Minute geärgert, aber dann musste ich es abschütteln.“ Man kann es auch anders ausdrücken: Wenn es so ist, dass der wieder einmal grandiose Bastian Schweinsteiger das Team anschiebt, es lenkt und es zusammenhält, kurz das Herz dieser Mannschaft ist, so ist es Thomas Müller, der dem Spiel dieser Elf eine Seele verleiht.

Es gibt viele Spieler, denen ein solches oder ähnliches Schicksal schon begegnet ist. Und nicht wenige haben sich darin ergeben. Müller aber spielte weiter, als hätte es diese Gelbe Karte nie gegeben. Im Gegenteil, und genau daran ließe sich Müllers Wert und Einfluss auf die Elf ablesen. Nicht er, sondern die Mannschaft spielte für ein paar Minuten wie benebelt, ja geradezu so, als wäre sie gesperrt fürs Halbfinale. Müller aber spielte sein Spiel weiter, und riss dabei die anderen mit.

Der Ausfall von Thomas Müller wiegt schwer. Er habe ja gezeigt, „mit welcher Torgefahr er bei diesem Turnier präsent ist“, sagte Joachim Löw. Der Bundestrainer ist nun gefordert. Wer soll, wer kann Müller ersetzen?

„Das werden wir auch schaffen“, sagte Löw kämpferisch. Klar, Trochowski, Kroos, Marin oder auch Cacau, der jedoch von Bauch und Rücken geplagt wird, machen sich Hoffungen. Doch jeder weiß, wie schwer das wird, einen Müller in dieser Form zu ersetzen. Oliver Bierhoff sagte nur: „Da müssen sich die anderen eben noch mehr reinhauen, dass er dann wieder das Finale spielen kann.“

Vielleicht sollte die gesamte Mannschaft ein paar mehr Müller’sche Züge annehmen. Zuzutrauen ist es ihr. „Was die Mannschaft an Willen abgerufen hat, das war nicht nur internationales Niveau, sondern Champions-Niveau“, sagte Löw nach dem stilbildenden Sieg: „Ich habe meinen Spielern gesagt: Ihr seid jünger, schneller und ausdauernder.“ Er hätte auch sagen können: Ihr seid alle Müller!

Thomas Müller lachte, als er das hörte: „Wir spielen nicht mehr so wie Deutschland vor zehn Jahren. Das macht uns so sympathisch“, sagte er, bevor er die Mixed Zone am anderen Ende verließ. Aber Vorsicht mit der Verve. „Es ist wichtig, dass wir jetzt nicht emotional überdrehen“, sagte Löw und beruhigte die Nation: „Bei aller Freude habe ich gespürt, dass die Spieler sofort weiterdenken, denn das Turnier geht noch weiter.“ Möglichst bis ins Finale.

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