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Ewald Lienen, 61, bestritt 333 Spiele in der Bundesliga, trainierte dort Duisburg, Rostock, Köln, Gladbach und Hannover. Seit Ende 2014 coacht er Zweitligist St. Pauli im Millerntorstadion.

© dpa

Trainer Ewald Lienen im Interview: "Beim FC St. Pauli wird die Utopie gelebt"

In Zeiten, in denen Werksklubs Transferrekorde feiern, ist der FC St. Pauli die letzte Bastion der Romantiker. Trainer Ewald Lienen erklärt, wie der Klub das überlebt.

Der FC St. Pauli ist wieder einmal der Hoffnungsträger des Anti-Establishments. Vergangene Woche gewannen die Hamburger nicht nur 1:0 bei RB Leipzig und sprangen auf Platz zwei der Zweiten Liga. Sie verzichteten auch darauf, das Logo des Gegners auf der eigenen Homepage zu zeigen. „Wir wollen für keine Firma Werbung machen“, begründete Trainer Ewald Lienen. Das macht den Klub wieder einmal zum Vorbild, nicht nur für den 1. FC Union, der am Freitag im Leipzig im Heimspiel schlagen will. Doch vergangene Saison wäre St. Pauli, 2011 noch Erstligist, fast abgestiegen. Lienen kam im Dezember 2014 und hielt am Ende die Klasse. 11 FREUNDE hat den Klub auf dem schmalen Grad zwischen Verweigerung und Anpassung im Profifußball besucht und dabei dieses Interview geführt.

Ewald Lienen, Sie waren einer der wenigen Profis, die sich in den achtziger Jahren politisch engagierten. So gesehen müsste der FC St. Pauli, der als linker, nach Basisdemokratie strebender Klub gilt, Ihr Traumverein sein?

Mir haben Freunde aus Hamburg schon vor vielen Jahren gesagt: „Ewald, du und dieser Klub, das wäre die ideale Verbindung.“ Aber weder in meiner Zeit als Spieler noch als Trainer kam es zu einer Kontaktaufnahme.

Aber jetzt sind Sie hier.

Letztlich muss ich als Trainer überzeugt davon sein, eine Aufgabe in Zusammenarbeit mit den handelnden Personen bewältigen zu können. Dieses Gefühl habe ich hier bei den Gesprächen sofort gehabt. Die gesellschaftspolitische Ausrichtung steht dabei erst einmal im Hintergrund, ist für mich aber eine zusätzliche Motivation, um mich hier total willkommen und an der richtigen Stelle zu fühlen.

Die Freunde hatten also recht mit der Aussage.

Ohne Frage: Dies ist ein Klub, der für Werte steht, die viele meiner Freunde und ich schon immer vorbehaltlos unterschrieben hätten. Es geht um die permanente Auseinandersetzung, ein tolerantes und respektvolles Miteinander in der Gesellschaft und damit auch im Klub zu erreichen. Damit sind Faschismus, Sexismus, Ablehnung von Homosexualität und so weiter, automatisch Ausrichtungen, die wir im Verein vorbehaltlos ablehnen und bekämpfen. Hier wird Demokratie mit allen Konsequenzen aktiv gelebt. Wer das nicht versteht, hat den FC St. Pauli nicht verstanden.

Der Klub und sein Anhang leben in der Übereinkunft, sich nicht allen Deformationen des modernen Fußballs zu öffnen. Dem FC St. Pauli entgehen jährlich rund 2,5 Millionen Euro, weil er sich weigert, den Stadionnamen zu verkaufen, LED-Banden aufzustellen oder die 15-minütige werbefreie Phase vor Anpfiff abzuschaffen. Geld, das Sie für das Team gut gebrauchen könnten.

Dieser Verein lebt auch davon und dadurch, dass man sich in einem Meinungsbildungsprozess, trotz einer Vielfalt unterschiedlicher Meinungen, auf eine bestimmte Ausrichtung geeinigt hat. Als Spieler habe ich erfahren, wie versucht wurde, mir mein Recht auf freie Meinungsäußerung abzusprechen. Deshalb gefällt es mir, dass man hier Strukturen immer wieder hinterfragt und sich mit neuen und abweichenden Meinungen unaufgeregt auseinandersetzt. Das ist das Wesen der Demokratie und damit bleibt man frei, handlungsfähig und bereit für Veränderungen.

Fürchten Sie nicht, in einer Zeit, in der Klubs wie RB Leipzig mit dem Geld von Investoren nach oben gespült werden, den Anschluss zu verlieren?

Natürlich würde es aus sportlicher Sicht Sinn machen, Geld zu generieren, aber beim FC St. Pauli muss dies eben auf sozialverträgliche Weise passieren und ohne unsere grundsätzlichen Werte über Bord zu schmeißen. Die bedingungslose Verknüpfung mit einem oder mehreren Investoren kann wirtschaftlich reizvoll sein, aber in anderer Hinsicht auch die eigene Handlungsfreiheit massiv einschränken.

Das neue Präsidium um Oke Göttlich besteht fast ausnahmslos aus langjährigen aktiven Fans. Wie ausgeprägt ist die Debattenkultur unter der neuen Führung?

Ehrlich gesagt habe ich schon Probleme, meine tägliche Arbeit zu bewerkstelligen, weil wir permanent in Diskussionszirkeln und Arbeitsgruppen sitzen. Manchmal schmeckt der Tee aber nicht so gut! Bei allem Respekt: Meine Arbeit konzentriert sich eindeutig auf das Sportliche. Aber natürlich lebe ich hier nicht in einer Blase und komme mit Fan- und Vereinsvertretern zusammen, um über sportliche Themen zu sprechen.

Präsident Göttlich träumt davon, den Verein sportlich zu professionalisieren und von seiner Struktur her zu öffnen. Vereinfacht gesagt: Die Fans sollen in enger Zusammenarbeit mit der Führung die Geschicke des Klubs mitbestimmen. Klingt wie eine Utopie.

Ich kenne Okes Träume nicht, aber die Utopie, eng mit Fans und Gremien abgestimmt zusammenzuarbeiten, wird hier längst gelebt. Was weitere Visionen angeht, widerspreche ich Altkanzler Helmut Schmidt: Ohne Visionen und Träume wird es keine Weiterentwicklung geben. Oke Göttlich will, dass die Menschen respektvoll und gemeinschaftlich miteinander etwas erarbeiten. Dabei entwickelt er eine große Euphorie und Hartnäckigkeit.

Sie mögen den 39-jährigen Präsidenten, oder?

Ich habe selten in meinem Trainerleben so viele Leute in der gesamten Führung erlebt, mit denen ich mich gut verstehe, und Oke gehört dazu. Beim FC St. Pauli geht es nicht um Personen, sondern um Themen und Lösungen, die den Verein nach vorne bringen. Dabei beschäftigen wir uns mit unterschiedlichen Meinungen und Ratschlägen, sonst hätten wir ja Bundeskanzler werden können.

Ihre Liaison mit dem FC St. Pauli begann kurz vor Weihnachten 2014 auf dem letzten Tabellenplatz. Inzwischen sind Sie mit dem Klub und dem Umfeld zu einer Einheit gewachsen. Ist das Engagement auf dem Kiez das Happy End Ihrer Trainerlaufbahn?

Hören Sie mal, ich habe mit 61 Jahren gerade erst akzeptiert, dass es richtig war, die aktive Laufbahn zu beenden. Wie soll ich da jetzt schon über mein Ende als Trainer nachdenken?

Das Gespräch führte Tim Jürgens.

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