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Sport: Das wäre doch gelacht

Vor den letzten fünf Etappen stellt sich nur eine Frage: Kann Jan Ullrich die Tour noch gewinnen? Eine Analyse

Pau. Gestern war bei der Tour de France Ruhetag. Zeit genug, um die entscheidenden Fragen vor den letzten fünf Etappen der 90. Auflage der Rundfahrt von Frankreich zu erörtern. Kann Favorit Lance Armstrong nach seiner imposanten Alleinfahrt auf der dritten Etappe in den Pyrenäen die Tour noch verlieren? Oder kann der in der Gesamtwertung nur 67 Sekunden zurückliegende Herausforderer Jan Ullrich den viermaligen Tour-Sieger doch noch gefährden? Und wie steht es um Alexander Winokurow, den dritten im Kreis der Fahrer, die dieses Jahr die Tour dominiert haben? Ist der Kasache nach seinem Einbruch bei der Etappe am Montag schon aus dem Rennen um das Gelbe Trikot? Im Folgenden Argumente, die für oder gegen die drei Fahrer sprechen:

Lance Armstrong: In den Pyrenäen hat der Amerikaner Ullrich geschlagen, ihm 52 Sekunden abgenommen. Armstrong wirkte am Montag so souverän wie in den vergangenen Jahren, in denen er die Tour stets in den Bergen für sich entscheiden konnte. Beim Anstieg auf die Skistation Luz-Ardiden hat der Texaner seine außergewöhnliche Willenskraft auf imponierende Weise erneut bewiesen. Allerdings: Der Vorsprung von Armstrong war in den Vorjahren nach 15 Etappen größer, 67 Sekunden Vorsprung auf Ullrich sind kein großes Polster. Also müsste Armstrong noch einmal angreifen, am Mittwoch bietet sich ihm die wohl letzte gute Chance: Da stehen die Ausläufer der Pyrenäen auf dem Streckenplan – mit Steigungen, die Armstrong „für die steilsten dieser Tour“ hält. Doch da es nach den beiden Pässen der ersten Kategorie 80 Kilometer bergab und meist flach nach Bayonne rollt, ist die Chance groß, dass Armstrong und Ullrich nebeneinander die 16. Etappe beenden. Das könnte ungünstig für Armstrong sein: Nach Mittwoch stehen zwei Flachetappen an, wo wahrscheinlich die Sprinter dominieren werden. Da wird der Amerikaner seinen Vorsprung kaum ausbauen können.

Das Einzelzeitfahren am Sonnabend müsste also die Entscheidung bringen. Beim Prolog und beim ersten Einzelzeitfahren hat Armstrong gegen Ullrich verloren: 96 Sekunden nahm ihm der Kapitän vom Team Bianchi am 18. Juli ab, die Strecke war mit 47 Kilometern sogar noch um zwei Kilometer kürzer als der Kurs von Pornic nach Nantes am Sonnabend. Armstrong hält sich daher mit seiner Prognose zurück. „Ich rede nicht über einen fünften Tour-Sieg, bevor ich nicht über die Ziellinie auf den Champs-Elysées bin.“ Also reicht der jetzige Vorsprung noch nicht zum fünften Tour-Sieg? „Ganz sicher nicht“, sagt Armstrong. Vorm Zeitfahren hat er aber keine Angst. „In der Vergangenheit bin ich da immer stärker als Ullrich gewesen.“ Ein Vorteil des Amerikaners ist seine mentale Stärke. „Ich weiß von mir, dass ich zu großen Dingen fähig bin, wenn ich es will“, sagt er.

Jan Ullrich: Der Bianchi-Kapitän ist trotz seiner Niederlage am Montag optimistisch. „Im Moment ist alles möglich“, sagt Ullrich. „Jetzt laufe ich zur Höchstform auf. Ich werde jeden Tag versuchen, Zeit zu gewinnen. Wenn sich die Chance bietet, werde ich sie nutzen. Ich werde alles probieren, um mir Lance noch zu schnappen.“ Das enorme Selbstbewusstsein des Jan Ullrich scheint ein Plus des Deutschen zu sein. Er hat in den vergangenen Jahren dazugelernt, auch abseits der Strecke. Besonders bescheiden klingt Ullrich jedenfalls nicht. Der Tour-Sieger von 1997 fühlt sich gegenüber dem Sieger von 1999 bis 2002 trotz des Rückstandes psychologisch im Vorteil: „Lance muss die Tour gewinnen. Ich kann sie noch gewinnen. Ich bin so dicht dran wie seit etlichen Jahren nicht mehr. Mehr als ich kann keiner motiviert sein. Die Chance ist so groß wie nie.“

Ob Ullrich allerdings seinen Triumph vom Zeitfahren von Cap’Découverte wiederholen kann, als er einen in der Hitze leidenden und schwächelnden Armstrong nahezu deklassierte, erscheint fraglich. Die klimatischen Bedingungen werden im Nordwesten Frankreichs anders sein als beim Zeitfahren im Süden – das spricht gegen Ullrich. Sein ehemaliger Kollege vom Team Telekom sieht es ähnlich. Erik Zabel sagt: „Beim Zeitfahren weht der Wind vom Meer, und bei Rückenwind ist eine Minute aufzuholen schon viel. Aber vielleicht wird es ja eine Fignon-LeMond-Geschichte.“ 1989 entriss der Amerikaner Greg LeMond im abschließenden Zeitfahren Laurent Fignon noch den sicher geglaubten Tour-Sieg – mit nur acht Sekunden Vorsprung.

Alexander Winokurow: Noch am Sonntag war der Kasache bei nur 18 Sekunden Rückstand nah dran am Gelben Trikot. Am Montag aber hat er sich nach seiner Schwäche auf der Tourmalet-Etappe auf den dritten Podiumsplatz in Paris eingerichtet. Bei 2:45 Minuten Rückstand ist der Gesamtsieg wohl eine Illusion geworden, zumal Armstrong und Ullrich die besseren Zeitfahrer sind. Winokurow sagt: „Ich habe am Tourmalet und beim Anstieg nach Luz-Ardiden für die Attacken an den Tagen davor bezahlt und bin ein wenig enttäuscht.“

Hartmut Scherzer

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