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Haltung bewahrt. Philipp Boy behielt trotz Fehlern im Mehrkampf die Nerven und hielt dem Druck im Finale stand. Foto: dpa

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Sport: Den Schatten im Rücken

Nach seinem EM-Titel rüttelt Philipp Boy an Hambüchens Star-Status und der Hierarchie im Turnen

Berlin - Fast wären sie gegeneinander geprallt. Philipp Boy war in Hektik, weil vor der Schmeling-Halle schon der Bus wartete. Es war nicht mehr viel Zeit bis zur Siegerehrung am Potsdamer Platz, die ganzen Leute und Fernseh-Kameras warteten dort auf ihn, sie wollten die Glücksgefühle einfangen, die den 23-Jährigen durchströmen, wenn ihm die Goldmedaille im Mehrkampf bei der Turn-EM umgehängt wird.

Aber direkt vor der Tür stand Fabian Hambüchen, der verletzte Mehrkampf-Europameister von 2009, der gerade seinen Titel an Boy verloren hatte. Er hatte auf den 23-Jährigen gewartet, er wollte ihm gratulieren. Die beiden strahlten sich kurz an, dann fielen sie sich um den Hals. Eine nette Geste.

Nur was sie wirklich aussagt, das weiß keiner. War es echte Freude, die sichtbare Fortsetzung des Lobs, das Hambüchen zuvor dem Teamkollegen gespendet hatte? Oder ein antrainiertes Zeichen des Respekts, vorgebracht aus Pflichtbewusstsein? Wahrscheinlich etwas irgendwo dazwischen.

Wer soll da auch schon Klarheit haben? Hambüchen selber wird ja nicht genau wissen, wie dieser Sieg zu bewerten ist. Wie stark ist Boy nun wirklich? Es ist nur eine EM, bei der die starken Asiaten fehlen, und Boy hatte sich einige Patzer geleistet. Andererseits ist Boy 2010 Mannschafts-Europameister geworden, hatte am Reck bei der EM Bronze gewonnen und wurde bald darauf Vize-Weltmeister im Mehrkampf. Ein paar Minuten nach der Umarmung erklärte Hambüchen im kleinen Kreis: „Mit dem, was ich kann, wäre ich auch vorne gelandet.“ Aber er ist halt nur als Fernseh-Kommentator hier.

Zunehmend deutlicher wird allerdings, dass hier einer immer stärker an Hambüchens Führungsposition im deutschen Team rüttelt. Vor allem, wenn Boy heute auch noch am Reck triumphieren sollte, dem Spezialgerät von Hambüchen. Gestern belegte Boy im Boden-Finale den achten Platz. Positionskämpfe sind erstmal nichts Aufregendes, der Sport lebt von solchen Duellen. Aber bei Hambüchen und Boy geht es sofort um den Eindruck eines besonderen Machtkampfs. In der Öffentlichkeit wird dieses Duell mitunter holzschnittartig aufgezeichnet: Da ist ein Star, der die Medien bedient, der sich Privilegien herausnimmt, mit 22 Jahren bereits seine Biographie vorgelegt hat, seine Erfolgsbilanz wie eine Monstranz vor sich herträgt und mit Nickelbrille und Gesten in der Attitüde des altklugen Professors auftritt.

Und da ist ein gut aussehender Athlet, der gerne Sonnenbrillen trägt, sehr auf Mode achtet, Anfragen für Model-Bilder erhalten hatte und immer auch sympathisch lässig wirkt. Der Gegenentwurf zu Hambüchen. Boy mag Hambüchen nicht sonderlich.

Es dürfte einige im Team geben, die diesem lässigen Typen schon deshalb diesen Titel gönnen, weil sie die Show, die um Hambüchen gemacht wird und die der bereitwillig befeuert, ziemlich auf die Nerven geht. Boy weiß das natürlich, genau deshalb achtet er darauf, dass er nicht zu sehr in die Rolle des Anti-Hambüchen geschoben wird.

Es wäre fatal für ihn, weil er sich dann auch im Erfolg nur über den anderen definierte. Deshalb sagte er 30 Minuten nach dem Finalsieg: „Jetzt kann ich verstehen, wie groß der Druck auf Fabian ist. Mein Respekt, wie er damit umgeht.“ Jetzt hatte der Sportsoldat als Vize-Weltmeister im Mehrkampf diesen Druck. „Nun gibt es ein paar Gedankengänge mehr, über die ich mich mit Fabian austauschen kann.“

Das sind ganz bestimmt mehr als ein paar nette Floskeln, hingeworfen im Gefühl der Euphorie. Denn dieser Druck lastete im Finale immer stärker auf dem 23-Jährigen. Er hatte seine Seitpferd-Übung verpatzt und mit den Beinen auf den Holmen des Barrens aufgesetzt, Boy hatte den gefährlichsten Punkt in einem Wettkampf erreicht: Er begann an sich zu zweifeln. Als er vom Barren zum Reck trottete, da begleitete ihn der Gedanke: „So, jetzt hast Du das Ding verturnt.“

Früher, sagte er, hätte er nun innerlich aufgegeben. Abgehakt, nächster Versuch im nächsten Wettkampf. Die einfache, die fatalistische Methode. Aber in Berlin dachte er nach der ersten Enttäuschung: „So, du hast noch Boden und Reck vor dir, deine Stärken. Da kannst du jeweils 15 Punkte machen.“

So denken Siegertypen. Er sog die Atmosphäre auf, diese Begeisterung, die vor allem ihm galt, auf einmal lebte er das Gefühl, dass er jetzt nicht einfach aufgeben und diese Leute enttäuschen durfte. Er trainiert sechs Stunden am Tag, er hat seinen Job als Bankkaufmann aufgeben, um sich ganz auf den Sport zu konzentrieren. Er sieht sich als Profi. Und hat sich im Finale wie einer verhalten.

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