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Die Fankurve als „Safe Space“: Warum ich mich als Frau im Fußball nie unwohl gefühlt habe
Seit sie atmen kann, ist Jessy James LaFleur Fußballfan. Sie erklärt, warum sie sich von der unglamourösen Fußballkultur nicht abschrecken ließ und was echte Zugehörigkeit bedeutet.
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Ich hätte mich für viele Fußballtempel entscheiden können: Roda JC Kerkrade, MVV Maastricht, Standard Lüttich – in meiner Heimatregion hatte ich in puncto Traditionsvereine die große Auswahl. Aber Alemannia Aachen spielte damals eine mitreißende Saison, und die Jungs in meiner Klasse saßen nach jedem Sieg stolz in ihren schwarz-gelb gestreiften Trikots im Unterricht. Das wollte ich auch.
Fußball ist ein Teil meines Lebens, seitdem ich atmen kann. Die Liebe für den besten Sport der Welt wurde mir zwar nicht mit der Muttermilch eingeflößt, aber die vielen Stunden auf dem Schoß meines Großvaters vor dem WDR-Teletext, begleitet von Radio-Spielkonferenzen im Hintergrund, haben ihre Spuren hinterlassen. Ich lernte, noch bevor ich richtig laufen konnte, was Abseits bedeutet, dass Schiedsrichter selten recht haben und dass jede WM oder EM wichtigere Feiertage als Weihnachten sind. Was mir jetzt noch fehlte, war der erste Stadionbesuch – aus Prinzip.
Mit 13 Jahren stand ich also vor meinen Klassenkameraden, die hoch und heilig schworen, mich zum Tivoli mitzunehmen, wenn ich vor dem nächsten Spieltag die gesamte Startelf inklusive Trainerstab runterbeten könnte. Offenbar hatten sie meine Hartnäckigkeit unterschätzt, denn ich lernte nicht nur die Startelf, sondern gleich den gesamten Kader und auch die Vereinsgeschichte auswendig. Mitgenommen haben sie mich nie, hingegangen bin ich trotzdem. Allein. Aus Prinzip.
Meinen ersten Stadionbesuch habe ich mir hart erkämpft, genauso wie meinen Platz im berüchtigten S-Block, das erste Mal Flagge schwenken und die heißbegehrten Tickets für historische Derbys und DFB-Pokalspiele. Ich hatte auf den dicht gedrängten Rängen nie das Gefühl, mich beweisen zu müssen, weil ich ein Mädchen war. Ich verstand die vielen Anforderungen eher als Bewährungsprobe dafür, dass es sich bei mir um eine echte Anhängerin handelte, die ihren Platz in der Fankurve verdient hatte, und nicht nur um einen „Erfolgsfan“, die nach dem Aufstieg in den Profifußball besonders viel Ablehnung und Häme erfuhren.
Fußball, vor allem seine Fankultur, ist ein auf Prinzipien basierendes Wertesystem mit klaren Hierarchien, Codes und Symbolen. Wer sie kennt, gehört dazu. Wer die Fangesänge nicht mitsingt, ist offensichtlich fehl am Platz, und das brandneue Trikot hat weniger Bedeutung als der selbstproduzierte Seidenschal einer Ultragruppe. Wer auf Auswärtsspiele mitfährt, gewinnt automatisch an Respekt, denn je weiter die Auswärtsspiele, desto kleiner die Gruppen, die die langen Fahrten auf sich nehmen.
Ich gehörte zu den wenigen Fans, die auch an Freitagen bis nach Babelsberg, Mannheim oder Balingen fuhren und auch mal an Bahnhöfen übernachteten, wenn der nächste Anschluss erst wieder um fünf Uhr morgens fuhr. Im Alter von 15 Jahren. Das fiel auf und wurde irgendwann mit dem lang ersehnten Zugehörigkeitsgefühl honoriert.
Fußballkultur ist halt nicht glamourös, sondern roh, laut und direkt.
Jessy James LaFleur
Ich habe „meinen Jungs“ die besten Fußballjahre zu verdanken. Ob bei Alemannia Aachen, Sydney FC, Brighton Hove Albion oder dem VfL Wolfsburg – ich habe mich als Frau in keinem Stadion je fehl am Platz gefühlt und wurde vor allem für mein lautes Gesangsorgan und mein fußballpolitisches Engagement geschätzt.
Auf Außenstehende mag das alles schrecklich irritierend wirken, aber Fußballkultur ist halt nicht glamourös, sondern roh, laut und direkt. Das war sie schon immer, so ist sie entstanden – das ist ihre Essenz und nicht jedermanns, beziehungsweise jederfraus Sache.
Die Fankurve – ein heiliger Ort, ein Zuhause, wo echte Emotionen erlaubt sind.
Jessy James LaFleur
Ohne Fußballkultur gäbe es keine Choreos, keine Stimmung, keine Pyro und auch keinen Auswärtssupport. Das pochende Herz des Mythos Fußball sind nicht die Vip-Logen, sondern die Fankurve – ein heiliger Ort, ein Zuhause, wo echte Emotionen erlaubt sind. In einer Gesellschaft, die Männer noch immer zu Stärke erzieht, ist das Stadion einer der wenigen Orte, an dem sie offen Gefühle zeigen und weinen dürfen, ohne dass es als Schwäche abgetan wird.
Im gegenwärtigen Diskurs wird „der Mann“ häufig als patriarchales Problem beschrieben, das es zu bekämpfen gilt. Der britische Autor Jan Urwin bezeichnet das Fußballstadion in seinem Buch „Boys don’t cry“ gar als „die letzte Bastion der Männlichkeit“. Ich würde sogar so weit gehen, die Fankurve als eine Art „Safe Space“ zu beschreiben, wo 90 Minuten lang die dringlichsten Diskussionen der VAR, unfähige Trainer oder Fehlentscheidungen sind.
Wo alle gesellschaftlichen Schichten ihre Mannschaft gemeinsam zum Sieg brüllen, wo Bierbecher fliegen, wenn ein Tor fällt, wo der Ton zwar rau ist, aber immer gepaart mit geballter Leidenschaft für den eigenen Verein. Ein Stadion ist ein Schlachtfeld, wo es zwar nicht um Leben und Tod, aber um den Kampf um die oberen Plätze oder den Abstieg geht, und diese Härte allgemein als frauenfeindlich abzutun, empfinde ich als zu kurzsichtig – vielleicht auch, weil ich es anders erlebt habe.
Ich würde es eher so ausdrücken: Ein Ticket für das Fußballstadion kannst du dir kaufen, aber einen Platz in der Fankurve musst du dir verdienen. Ich respektiere das, auch wenn ich nicht alles toleriere, und genau deswegen möchte ich Frauen ermuntern, genau das tun: Präsent sein, laut sein, dazugehören, den Fußball mitgestalten – aus Prinzip.
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