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Die größten Blackout-Momente: Wamsers Handspiel bei der EM – wenn der Kopf plötzlich aussetzt
Wenn Spielintensität, Verantwortung und Emotionen kollidieren, kann das schiefgehen. So wie beim EM-Gruppenspiel, als Nationalspielerin Carlotta Wamser Rot kassiert. Ihre Aktion ist kein Einzelfall.
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Zwischen überschwänglicher Freude und grenzenloser Enttäuschung liegen im Fußball manchmal nur wenige Minuten. In der einen Situation legt man ein Tor mit einem Traumpass vor, in der anderen begeht man einen folgenschweren Fehler, der das eigene Team möglicherweise den Sieg kostet. So erging es am Samstagabend der deutschen Nationalspielerin Carlotta Wamser.
Die 21-Jährige, die seit der Verletzung von Giulia Gwinn bei dieser EM die Rolle der Rechtsverteidigerin im DFB-Team ausfüllt, wollte bei der 1:4-Niederlage in Zürich unbedingt den dritten Gegentreffer verhindern und klärte den Ball auf der Linie mit der linken Hand. Da sie das mit voller Absicht tat, zeigte ihr Schiedsrichterin Silvia Gasperotti anschließend die Rote Karte und entschied zusätzlich auf Elfmeter für Schweden.
Die Spielerinnen verteidigen Wamser – der Bundestrainer nicht
„Carlotta machen wir überhaupt keinen Vorwurf“, sagte ihre Teamkollegin Janina Minge. „Sie kann nichts dafür. Der Fehler lag nicht bei ihr. Wir müssen versuchen, Carlotta aufzubauen.“ Schon in den Sekunden nach dem Handspiel tröstete Sjoeke Nüsken die unerfahrene Wamser, die im dritten Gruppenspiel erst ihren fünften Einsatz im Trikot des deutschen Nationalteams erhalten hatte. Auch Gwinn, die mit Knieschiene von der Auswechselbank aus unterstützte, nahm Wamser in den Arm und sprach ihr Mut zu.
Wir liegen jetzt am Boden, aber wir werden auch wieder aufstehen.
Christian Wück, Bundestrainer
Einzig der Bundestrainer stellte sich in der Öffentlichkeit nicht vor seine Spielerin. „Spätestens nach der Roten Karte war das Spiel verloren. Selbst mit elf Spielerinnen wäre es schwer gewesen, zurückzukommen. Wir liegen jetzt am Boden, aber wir werden auch wieder aufstehen“, sagte der 52-Jährige lediglich. Wie schon bei den ersten beiden Gruppenspielen dieser EM übte er öffentlich Kritik an seinen Spielerinnen, ohne dabei selbst Verantwortung zu übernehmen.

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Unter deutschen Fans entbrannte in der Folge eine Diskussion darüber, wie es zu dem Handspiel hatte kommen können und ob man Wamser diesem großen Druck überhaupt hätte aussetzen dürfen.
Klar ist, dass dem Handspiel bereits mehrere Fehler ihrer Mitspielerinnen vorausgingen. Erst standen Sarai Linder und Rebecca Knaak nicht gut, dann ließ sich Letztere zu leicht ausdribbeln. Wamser die volle Schuld für die Niederlage zu geben, ist daher nicht richtig. Zumal ihre Aktion kein Einzelfall ist.
In der Vergangenheit gab es bereits mehrere Beispiele, in denen Fußballer oder Fußballerinnen aus der Emotion heraus die falsche Entscheidung trafen. Das Handspiel auf der Linie ist dabei ein Klassiker unter den „Blackout-Momenten“.
1. Suárez im WM-Viertelfinale 2010
Der berühmteste Fall ist wohl der von Luis Suárez im Viertelfinale der WM 2010 gegen Ghana. In der letzten Minute der Verlängerung blockte Suárez mit beiden Händen einen Kopfball auf der Linie, der sicher ins Tor gegangen wäre. Weil Asamoah Gyan den anschließenden Elfmeter verschoss, rettete Suárez seine Mannschaft damit ins Elfmeterschießen, das Uruguay schließlich gewann. Während der Stürmer in Ghana zur Persona non grata erklärt wurde, avancierte er in Uruguay zum Helden. Suárez’ Regelverstoß galt damals als taktisch „klug“.
2. Ballack im WM-Halbfinale 2002
Bei der WM 2002 in Japan und in Südkorea erlaubte sich Michael Ballack zwar kein folgenschweres Handspiel und sah auch keine Rote Karte. Nach einem unnötigen taktischen Foul kassierte er im Halbfinale gegen Südkorea aber seine zweite Gelbe Karte des Turniers. Er erzielte kurz darauf noch den Siegtreffer, fehlte dann aber als wichtigster Spieler im Finale, das Deutschland mit 0:2 gegen Brasilien verlor.
3. Boateng im WM-Gruppenspiel 2018
Ähnlich erging es Jerome Boateng bei der WM 2018 in Russland. Im zweiten Gruppenspiel gegen Schweden beging er ein Foul nach dem nächsten. In der ersten Halbzeit hatte er noch großes Glück, als ein Foul an Marcus Berg nicht mit einem Elfmeter bestraft wurde. Zehn Minuten vor Schluss sah er schließlich nach einer übermotivierten Grätsche doch noch Gelb-Rot. Deutschland gewann zwar dank eines Last-Minute-Treffers von Toni Kroos, schied dann aber im dritten Gruppenspiel gegen Südkorea (0:2), bei dem Innenverteidiger Boateng gesperrt fehlte, vorzeitig aus dem Turnier aus.
4. Bartusiak im WM-Halbfinale 2015
Eine ehemalige deutsche Nationalspielerin, die Carlotta Wamser sehr nah steht, dürfte ihre Gefühlslage besonders gut nachfühlen können: die heutige Co-Trainerin Saskia Bartusiak. Wie auch Wamser reagierte sie in einer Drucksituation instinktiv – und falsch. Bei der WM 2015 in Kanada verschuldete die damals als erfahren geltende Innenverteidigerin im Halbfinale gegen die USA durch ein ungeschicktes Foul einen Elfmeter. Es war kein impulsiver Blackout, aber eine Art „Nervositätsmoment“ in einem großen Spiel, welcher durch den verwandelten Elfmeter von Carli Lloyd den Weg zur 0:2-Niederlage bereitete.
All diese Beispiele zeigen, dass Momente der Überforderung wie der von Wamser gerade auf allerhöchstem Niveau vorkommen. Solche Szenen entstehen, wenn Spielintensität, Verantwortung und Emotionen kollidieren. Im Fall der 21-Jährigen halten sich die Folgen vergleichsweise noch in Grenzen. Wamser wird im Viertelfinale am Sonnabend (21 Uhr) in Basel gesperrt fehlen. Dennoch hat das deutsche Team noch alle Möglichkeiten, ins Halbfinale der EM einzuziehen.
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